»Wenn du etwas Besseres hast – her damit! Ansonsten – Finger weg!«
Der Bursche hielt inne und ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen, hochrot im Gesicht. Ein hübsches Grübchen erschien neuerlich in seiner rechten Wange, auch, als sein Gesicht noch zorniger wurde und seine Stimme sich meckernd weiter ereiferte. Er schimpfte. Was genau er sagte, kann ich heute nicht mehr detailgetreu wiedergeben. Jedenfalls fühlte er sich wohl einerseits so enorm in seiner Ruhe gestört, dass er nicht anders konnte, als seinen Unmut kundzutun, andererseits reichte seine selbstgefällige Courage, die neue Gemeinschaft schon zu Beginn mit allen Konsequenzen zu maßregeln, noch nicht aus, die Musik auch wirklich abzustellen. Trotzdem – seine Dreistigkeit war erstaunlich. Wir alle saßen doch kaum einige Minuten beieinander und bemühten uns, die Erschütterungen des Starts zu überspielen. Kaum einer hatte es noch gewagt, seine Stimme über die Sprechstärke der anderen zu erheben. Und dieser Bursche mimte bereits den Tyrannen.
Er grölte und gestikulierte, erhob sich neuerlich. Mir ging auf, dass er in seinem Abschiedsschmerz wohl ein paar Gläschen zuviel getrunken haben musste.
»... nach dem Motto ... wir fahren nach Afrika und nicht in eine beschissene Disco! Das hab’ ich jedenfalls geglaubt! Wir fahren ja nach Afrika ... Wer will schon in eine beschissene Disco?«
Er wiederholte sich munter weiter. Dazu stand er auf, und es schien, als wollte er die ungeliebte Musik nunmehr zu dirigieren beginnen. Niemand sagte zunächst noch etwas zu ihm. Als wohnten wir einer Theatervorstellung bei, verharrten wir andächtig. Sogar Armin, mein Gegenüber, nahm für ein paar Minuten seine dunkelbraun glosenden Blicke von meinem Gesicht. Befremdete, aber auch amüsierte Augenpaare folgten den Bewegungen unseres erbosten Mitreisenden, als er in der Tasche zu seinen Füßen hektisch zu kramen anfing. Dabei grölte er undefinierbaren Sprechgesang.
»Also, mir scheint ... « Eine Frauenstimme erhob sich, wobei das Wörtchen »scheint« die anderen an schriller Betonung bei weitem übertraf, die Dame musste dicht hinter mir im Wagen sitzen, »... das ist doch... ach, Gott, wenn das so weitergeht....« Die klagenden Worte reizten mich noch mehr zum Lachen als das Stänkern des Erbosten Discofeindes. »Gott« erhielt dieselbe schrille, dramatische Betonung wie »scheint«. Prompt äffte jemand im Fond des Wagens die jammernden Damenstimme nach.
»Hat eben Abschied gefeiert, der Knilch,« lenkte eine Jungmännerstimme ein. Mit einem gehauchten ,Ach Gott‘ ließ die empörte Dame es für den Moment gut sein. Der Erboste stopfte sich soeben mit verachtungsvoller Miene Ohropax in die Gehörgänge und warf sich auf seinen Sitz, die Beine angezogen, die Arme um die Knie verschränkt. Bedeutete sein Auftritt, dass die Gruppenharmonie bereits einen Feind hatte? Gab es mehrere solche jähzornigen Kameraden in unserer Gruppe? Das Grübchen erschien hartnäckig sogar im Schlaf in seiner Wange.
Soeben zogen die letzten Lichter Wiens am Seitenfenster vorbei. ,Na fein,‘ kam mir in den Sinn, ,... die kürzeste Friedenszeit der Weltgeschichte haben wir erlebt...‘ Aber es war doch spaßig gewesen, und der Zwischenfall hatte uns aufgemuntert. Der Bursche schien nun friedlich zu schlummern. Sobald der Alkoholschleier sich gehoben haben würde, könnte er sich durchaus als netter Zeitgenosse entpuppen, nach seinen feinen, ernsthaften Zügen zu schließen.
Wir bogen auf die Südautobahn ab. Als wir bemerkten, dass selbst altersschwache Vehikel gleich Geschossen an uns vorüber zischten, ging uns auf, dass unsere Fahrzeuge wohl allenfalls eine Höchstgeschwindigkeit von 7o Stundenkilometer schaffen konnten.
»Na, fein,« seufzte jemand, »... Schneckentempo ist angesagt.«
Dass auf den meisten Pfaden des Schwarzen Kontinents eine Geschwindigkeit von 70 Kilometern pro Stunde geradezu halsbrecherischer Raserei gleicht und kaum irgendwo gehalten werden kann, ahnten wir nicht. Zwanzig Stundenkilometer Fahrttempo sollte uns in ein paar Wochen als atemberaubend erscheinen. Wir wussten an diesem Abend nur, dass wir schnell sein mussten in den nächsten zwei Tagen. Denn wenn die Fähre in Sizilien uns vor der Nase davon schipperte, würden wir eine Woche lang unfreiwillig die Gelegenheit haben, die Brutstätte der Mafiosi kennenzulernen.
Regen trommelte frech gegen die Fensterscheibe, als verlangte auch er noch Einlass in die Sardinenbüchse. Auf dem Sitz zum Rand hin zu rutschen und meine Füße nach hinten unter meinen Sitz zu schieben, sodass meine Oberschenkelmuskel sich strecken konnten, blieb Sehnsucht. Vor mir stoppten Armins Knie mein Ansinnen, und unter meinem Sitz lagerten meine eigene Fototasche sowie Gepäckstücke des Reiseteilnehmers hinter mir. Also stellte ich die Beine gerade, als säße ich in der Kirche. Später faltete ich sie auf dem Sitz, als meditierte ich in einem indischen Ashram. Später versuchte ich, mich schräg zu platzieren und die Beine gegen die Wand des Wagens zu stemmen, um vielleicht den Kopf auf den Knie zur Ruhe betten zu können. Später versuchte ich mich auf dem Sitz zusammenzurollen, indem ich die Beine eng anzog und die Arme um sie schlang, mit dem Ergebnis, dass meine Finger zu krampfen anfingen ...
»Embroynale Pose,« urteilte Armin mit einem Grinsen, als hätte er eine besondere Schwäche für Embryos, »... möchtest zurück in den Mutterleib? Ich kenn das.« Ich brachte meinen Körper in die Ausgangsstellung mit den brav aufgestellten Beinen zurück, verschränkte die Arme, legte den Kopf gegen die Sitzlehne und versuchte, mich durch die Betrachtung der Deckenleuchte, in der Nähe dösender oder plaudernder Mitreisender oder der Wagenwand neben Armins Ohren wachzuhalten, um später so müde zu sein, dass ich – egal, in welcher Position – einschlafen würde. Für diese Nacht war kein Stopp geplant. Wir mussten doch so schnell wie möglich durch Italien fahren, um die Fähre zu erwischen. Allerdings fragte ich mich nunmehr, weshalb Bert den Abfahrtstag nicht vorverlegt hatte, damit es nicht so knapp werden sollte mit der Anreise zur Fähre?
Mein Sitznachbar wechselte an diesem Abend. Leute von ganz hinten kam nach vorne, um mit ihren Kollegen zu plaudern und die Gruppe aus der Pole-Position zu überblicken. Seltsamerweise hatte niemand den Sitz neben mir exklusiv okkupiert. Er gehörte diversen Gepäckstücken, die von ihren Besitzern sicher scharf im Auge behalten wurden, wenn jemand sie beiseite schob, um für einige Zeit platzzunehmen. So sollte es während der gesamten Reise bleiben. Der Sitz neben mir war Allgemeingut und daher ständig umstrittenes Objekt, wenn er auch – als Sitz direkt gegenüber dem Einstieg – zu recht als der unbequemste galt, weil man auf ihm ständig Ein- oder Aussteigenden ausweichen musste, wollte man nicht hundertmal am Tag von Knien angestoßen oder von nach Halt grapschenden, meist grauenhaft dreckigen, Fingern befummelt werden.
Ein eisiger Luftzug streifte meine Ohren. Der Wunsch, meine Sitzposition zu verändern, wurde übermächtig. Allein, mir fehlte die Bewegungsfreiheit. Ich bemerkte, dass die anderen, inzwischen bis auf ein paar Flüsterer großteils verstummt, ebenfalls verhalten ächzend mit den Raumverhältnissen auf ihren Sitzen kämpften.
Die späte Stunde lähmte uns aber gnädig.
»Wenn das da unten deine Fototasche ist –«
,Fototasche – wo? Was? Wie?‘ Hellwach war ich mit einemmal. Das magische Wort »Fototasche« sollte noch monatelang die Reaktionen innerhalb der Gruppe im »Alarmstufe-Rot-Modus« bestimmen beim täglichen Kampf um das Wohlergehen unserer persönlichen Schätze wie Fotoausrüstung und Schlafsack. Es galt, auf engstem Raum Ordnung zu halten, selbst auch noch genügend Platz zu finden und überdies die empfindlichen Kameras zu beschützen.
Wie ahnungslos naiv gingen wir an diesem ersten Abend noch mit unserer Sorge um unsere persönlichen Sachen um! Ein paarmal nachsehen, ob alles richtig lag oder stand und ob der Nachbar genügend Platz hatte, weiterdösen, aufschauen, wenn jemand sich in der Nähe heftig regte, weiterdösen ...
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