Ich ging noch einen Schritt näher heran und sah ihre weit aufgerissenen Augen und ihre Lippen, an denen das dunkle Blut entlang lief. Ganz vorsichtig ergriff ich ihre Hand und merkte erst jetzt, dass ich zitterte. Doch egal, wie lange ich mich bemühte und tastete, ich konnte einfach keinen Puls fühlen. Er war nicht vorhanden. Tränen überströmten mein Gesicht, als ich mich zu Sue umdrehte.
»Ich glaube, sie ist tot …«
Das Gesicht meiner Freundin verzerrte sich und sie schlug sich die Hände vor den Mund.
»Aber wir haben doch gerade eben erst mit ihr geredet …«
Ich schaffte es nicht, meinen Blick von ihr zu nehmen, so geschockt war ich. Gerade eben hatte ich gedacht, sie in Sicherheit gebracht und sie so vor dem Tod bewahrt zu haben, aber da hatte ich mich scheinbar gewaltig geirrt. Ich ließ die kalte Hand des toten Mädchens fallen und musste mich auf dem Boden abstützen, um nicht umzukippen.
»Sie ist ja ganz kalt…«, sah Sue mich an. »Aber wie kann das sein? Sie ist doch gerade eben erst überfahren worden! Wie kann sie da schon ausgekühlt sein?«.
Die Situation überforderte also nicht nur mich, sondern auch sie total.
»Sie ist tot …«
Ich wiederholte es immer wieder, fast so, als versuchte ich, etwas daran zu ändern. Der junge Kellner kam zu uns und versuchte ebenfalls panisch, ihren Puls zu ertasten.
»Ich hab einen Knall gehört. Ist das Mädchen etwa vors Auto gelaufen?«, fragte er.
»Nein, ein Wagen hat sie angefahren. Er ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hat sie einfach mitgerissen.«
Er gab es auf und ließ ihre Hand ebenfalls fallen, dann rieb er sich die Stirn. Man sah ihm an, dass auch er völlig schockiert war.
»Sie war doch gerade noch da. Es kann doch nicht …«
Ich schaffte es nicht, weiter zu sprechen. Der Schock über das, was gerade eben geschehen war, schien mich immer stärker zu lähmen. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, doch auch das spürte ich nur noch schemenhaft.
Sue stand reglos neben mir und sah ebenfalls auf das tote Mädchen hinab. Gerade eben hatte sie noch neben uns gesessen, und jetzt lag sie leblos am Boden. Vor wenigen Minuten hatte ich sie vor dem Ersticken gerettet und jetzt? Jetzt sollte sie dennoch gestorben sein? Das konnte doch nicht wirklich sein, oder? Sollte das Gerechtigkeit sein?
Und der Schuldige war mit dem Wagen längst über alle Berge. Er hatte nicht einmal abgebremst und sich umgedreht und das, obwohl er ein Mädchen getötet hatte …
»Wie kann der einfach davonfahren? Immerhin hat er doch ein Mädchen überfahren. Hat der überhaupt ein Gewissen?«, fragte der Kellner jetzt fassungslos und sah die Straße entlang.
Ich hob nur ahnungslos die Schultern und fragte mich im Moment dasselbe. Was war das bloß für ein Mensch, der skrupellos einfach weiterfuhr, ohne sich um den Zustand seines Opfers zu kümmern? Wie konnte man, wenn man doch wusste, jemanden angefahren zu haben, einfach weiterfahren?
»Hat jemand das Nummernschild von dem Wagen aufgeschrieben?«, schrie ein Mädchen, welches nun dazu gekommen war, mit schriller, beinahe schon hysterischer Stimme.
Doch natürlich hatte es sich niemand gemerkt. Das war alles viel zu schnell gegangen, als dass jemand die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Sue zog mich auf die Beine und ich lehnte mich dankend etwas an ihr an. Kurze Zeit später hielt ein Rettungswagen direkt neben uns. Mit schnellen Schritten traten drei Sanitäter heraus und gingen bei dem Körper des Mädchens in die Knie, doch als sie ihren Puls ertasten wollten, schüttelte der eine von ihnen den Kopf und seufzte.
»Sie hat keinen Puls mehr, die Haut ist kalt. Wir sind zu spät.«
Zwar versuchten sie trotzdem noch eine halbe Stunde lang, das Mädchen wiederzubeleben, doch es war vergebens. Erneut rannen dicke Tränen über mein Gesicht und ich verbarg es in den Händen.
»Bitte lass uns gehen …«
Sue sagte nichts, sondern nickte einfach nur und stimmte zu. Der Kellner hielt mich kurz am Arm fest.
»Ich bin übrigens John!«, sagte er.
Ich war zwar überhaupt nicht in der Stimmung zu reden, aber dennoch reichte ich ihm kurz meine Hand.
»Ana. Nimm es mir nicht übel, aber ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.«
Verständnisvoll nickte er. Ich sah mich nicht mehr um, als ich mit meiner Freundin in Richtung unserer Straße lief. Als ich in dieser Nacht im Bett lag, hatte ich mich noch immer nicht beruhigt. Zwar weinte ich nicht mehr und auch das Zittern hatte nachgelassen, aber dennoch saß der Schock tief. Das Mädchen war wirklich gestorben und das, obwohl ich mir sicher gewesen war, sie davor bewahren zu können …
Verhängnisvoller Augenblick
Ein paar Tage später saß ich bereits frühmorgens um 05:30 Uhr vor dem Fernseher, weil es mir irgendwie einfach nicht gelang, länger zu schlafen. Die Beerdigung von Jenny, ein paar Tage zuvor, hatte mich ziemlich geschlaucht, und obwohl ich sie nicht lange gekannt hatte, irgendwie auch total mitgenommen. Immer wieder hatte ich die Bilder vom Unfall im Kopf. Ich sah vor mir, wie das Auto um die Ecke fuhr, ausbrach, sie erwischte, und sie mit einem dumpfen Geräusch auf dem Asphalt aufprallte.
Eine kurze Zeit hatte ich mich sogar gefragt, ob ich vielleicht Schuld daran hatte. Immerhin hatte ich sie vor dem Ersticken retten können, also warum nicht auch davor? Ich hatte sie nicht einmal richtig gekannt und durfte mir an ihrem Tod keine Schuld geben. Sie war auf die Straße gelaufen und ein Auto hatte sie angefahren. Das passiert so oft auf der Welt und jetzt war es eben auch einmal bei uns passiert. Zufälligerweise war ich gerade in der Nähe gewesen und musste alles mit ansehen. Aber mittlerweile ging es mir schon wieder etwas besser.
Doch die Tatsache, dass ich mir diesen Fremden schon wieder eingebildet hatte, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Aber dieser Fremde, den ich gesehen hatte, den gab es ja nicht wirklich. Er war nur eine bescheuerte Einbildung, die mich seit dem Tod von Danny immer wieder verfolgte. Ein Phantom, das mir ab und an noch immer ziemlich zusetzte, wie es schien.
Ich seufzte kurz in mich hinein und obwohl ich mir immer wieder einredete, dass es sich bei dem Kerl nur um eine Fantasievorstellung handeln musste, blieb dennoch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Aber das verdrängte ich schnell und konzentrierte mich wieder auf den flimmernden Bildschirm vor meinen Augen. Es lief fast nichts, was mich wirklich interessierte, deswegen blieb ich bei einem der vielen Nachrichtensender hängen. Es lief das Übliche. Ein paar News aus der Welt der Schönen und Reichen, ein paar politische Neuigkeiten, die eigentlich keinen wirklich interessierten, und ein Unfall, dem jedoch besondere Beachtung geschenkt wurde. Ein Reporter stand mit dem Rücken zur Kamera, während er sprach.
»Sarah S. wurde vor zwei Stunden in ihrem Zimmer leblos aufgefunden. Ob es sich hier um einen Unfall oder um ein Gewaltverbrechen handelte, das steht noch nicht fest. Sicher ist nur, dass das Mädchen nicht, wie zuerst vermutet, erstickt ist, sondern auf einem anderen Weg ums Leben kam. Zwar zeigten sich starke Würgemale am Hals der Toten, aber laut den Spezialisten sind diese nicht der Grund für den Tod des jungen Mädchens, denn außer den Würgemalen wurden auch etliche tiefe Schnittwunden am gesamten Körper des Mädchens gefunden.«
Das ungute Gefühl steigerte sich und ich schaffte es nicht, die Fernbedienung wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Wie gebannt starrte ich weiter auf den Bildschirm. Der Reporter drehte sich etwas zur Seite, sodass man seine Umrisse erkennen konnte, und sprach weiter .
»Die Eltern werden psychologisch betreut und haben ihre Aussage bereits gemacht.«
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