Ich habe diese Frau in der Vitrine die ganze Zeit inquisitorisch angestarrt, als wenn die exakte Rekonstruktion ihres physischen Selbst mir darüber Auskunft verschaffen könnte, was damals vor zehn Jahren mit uns beiden geschehen war.
Die hier Anwesenden sind mit einer Botschaft beschäftigt, die mich nichts angeht – so jedenfalls kommt es mir vor. Was soll denn dieser Bericht über die Kindheit eines Mannes von Irgendwo, der einen hüpfenden Globus umarmt? Die Einladung in das Haus des Astronomen, der sich selbst als Astrohom stilisiert, hält für mich eine ganz andere Botschaft bereit: Ich sehe eine Frau in der Vitrine, fremd und schön wie ein Insekt, das ich nicht berühren darf, ein ungelöstes Rätsel, eine unbewältigte Qual. Ich habe diese Frau angestarrt, aber, wenn ich glaubte, dass mein Blick die Entfernung zwischen uns zu verringern und das Rätsel aufzulösen vermag, dann habe ich mich geirrt. Es ist dieselbe Eveline, wie ich sie einst kannte – sie hat sich, so scheint es, in all den Jahren überhaupt nicht verändert - und dennoch ist es eine ganz andere Frau: ein schönes Insekt.
Wie unbekümmert die anderen Gäste sich benehmen! Teddy scheint geradezu in seinem Element zu sein.
Ich bin entzückt, ruft er aus. Da werden uns Menschen einer anderen Welt geschildert, und benehmen sich doch genauso wie du und ich. Den alten Aufschneider Ronald Bubbo habe ich deutlich vor Augen, und so ein kleiner verschüchterter Knabe wie sein Sohn John ist mir schon oft über den Weg gelaufen. Wissen Sie, dass mich diese Ähnlichkeiten mit unserer eigenen Welt wirklich erleichtern? Stellen Sie sich bitte vor, auf anderen Planeten würden Wesen mit drei Augen oder einem Dutzend Händen und Armen leben und sie würden völlig anders denken und fühlen als wir. Das wäre eine echte Katastrophe, vielleicht käme dann überhaupt keine Kommunikation zwischen ihnen und uns zustande. Meine Bücher würden sie dort jedenfalls nicht verstehen. Diese Botschaft dagegen ist für mich der Beweis, dass mein jüngstes Werk „Selig - Warum der Mensch von Natur aus gut ist“ auch in der Welt Bubbos Leser fände. Ein so gescheiter Mensch wie dieser Dittlick würde es gewiss auf Anhieb verstehen. Jedenfalls ist es mein persönlicher Wunsch, mit diesen Wesen so schnell wie möglich Kontakt aufzunehmen - vorausgesetzt natürlich, dass eine solche Verbindung im Sinne unseres Gastgebers ist.
Gernegut hat mit Armen und Beinen zugleich geredet, sein feuriger Optimismus bringt auch Schdruschka zum Lächeln, nur Platsch kehrt uns weiterhin eine finstere Miene zu, die noch umso finsterer wird, je länger der Ausbruch Gerneguts währt.
Bei aller Hochachtung für die Meinung eines Künstlers, tritt er mit mürrischem Wort dazwischen, wäre es doch vielleicht richtiger, erst einmal der Wissenschaft das Wort zu erteilen. Die reichlich simple Geschichte aus dem Hause der Bubbos erinnert mich in der Tat an Ähnliches, was uns auch hier auf unserer guten alten Gaia begegnen könnte. Unser Freund Gernegut hat schon recht: Diese Zeilen könnten aus seiner eigenen Feder stammen. Das nennt man dann wohl Roman oder Erzählung, kurz etwas Erfundenes mit einem in der Regel überaus dürftigen Wahrheitsgehalt. Ich sehe nicht, was wir, speziell, was die ernsthafte Wissenschaft, von diesem Text lernen soll. Herr Gernegut mag sich darüber freuen, dass er seine Werke auch auf dem grünen Planeten bei den Bubbos verkaufen könnte – ich gönne ihm gern ein Publikum in den Weiten des Universums -, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die zufallsgetriebene Evolution im ganzen Kosmos Wesen von gleicher Art wie auf unserem Globus hervorbringt, müssen wir leider für infinitesimal gering einschätzen. Ich kann mir zum Beispiel keinesfalls vorstellen, dass es auf Grün dieselbe Art Vögel gibt wie bei uns, Hühner etwa oder Enten oder eben Menschen wie die Familie Bubbo. Die Erwartung, dass diese Wesen dann auch noch so denken und fühlen wie wir - wir hören ja, dass der Held der Geschichte mit größtem Behagen eine Hühnerkeule verspeist -, muss ich aus rein theoretischen Überlegungen geradezu auf Null reduzieren. Das ist es, Kollege Schdruschka, was ich Ihnen hier als Vertreter der exakten Wissenschaft leider zu sagen habe.
Das saß! Der arme Schdruschka wurde abwechselnd rot und bleich, nicht einmal ein Rest des obligaten Lächelns war in seinem großen Palatschinkengesicht zu entdecken.
Was mich selbst betrifft, so hat mich der Streit zwischen dem Physiker und dem Schriftsteller für einen Augenblick von der blonden Frau losgerissen. Einerseits ist das Argument von Platsch ja wirklich nicht so leicht zu entkräften. Die Familie Bubbo erscheint einem doch auf den ersten Blick geradezu verdächtig bekannt. In meinen Augen gilt das allerdings in noch höherem Grade für den kalt argumentierenden Gast, der uns als Dittlick vorgestellt wird. Ist nicht jeder von uns einem solchen Sophisten schon mehrmals in seinem Leben begegnet? Ich verstehe ja das Entzücken von Gernegut über die frappierenden Ähnlichkeiten mit den hier lebenden Menschen, aber können wir darin wirklich die Beschreibung von Zuständen erblicken, die sich in einer anderen Welt abspielen?
Theophil, der konsultative Prälat – was immer man sich darunter vorstellen mag -, hat bis zu diesem Moment geschwiegen, nur die Augen in stiller Andacht nach oben verdreht. Nun meldet er sich leise zu Wort, und er tut es mit gütigem Lächeln.
Liebe Freunde, wenn sich der weltliche Verstand und die Wissenschaft streiten, dann mag es dem Kenner der überweltlichen Weisheit gestattet sein, in aller Bescheidenheit seine eigene Überzeugung einzubringen. Ist es denn wirklich erstaunlich, dass eine fremde Welt von Wesen besiedelt wird, die uns nicht nur ähnlich sind, sondern uns geradezu gleichen? Mancher Wissenschaftler, wir haben gerade die Meinung von Herrn Justus Platsch gehört, hält dies in der Tat für unwahrscheinlich; wer sich allerdings den Glauben an die Weisheit Gottes bewahrt, der wird im Gegenteil von der allergrößten Wahrscheinlichkeit reden, ja von vornherein davon ausgehen müssen, dass etwas anderes nicht zu erwarten sei. In der Genesis können Sie lesen, dass unser Herrgott am fünften und sechsten Tag die Wesen im Wasser, auf dem Lande und in der Luft auf ein und dieselbe Weise erschuf. Wird da etwa gesagt, dass er auf verschiedenen Himmelskörpern jeweils andere Tiere ins Leben rief? Am sechsten Tag hat unser Herrgott sich dann noch die Mühe gemacht, auch uns, die Menschen, mit eigener Hand zu bilden. Sagt uns die Bibel etwa, dass er ihnen auf den vielen bewohnten Himmelskörpern jeweils andere Gestalten verlieh?
In der von Ihnen soeben verlesenen Botschaft, liebe Frau Schdruschka, erblicke ich einen weiteren sehr schönen Beweis für die Wahrheit unserer Heiligen Schrift. Als gläubiger Mensch und Bewohner Gaias bin ich von diesem Text bisher wirklich angetan, wenn ich auch anmerken möchte, dass die Person, die uns als Herr Dittlick geschildert wird, gewisse Meinungen vertritt, die aus theologischer Sicht recht anfechtbar sind. Dennoch freue ich mich jetzt schon darauf, die Fortsetzung zu hören. Bitte lesen Sie weiter, Frau Schdruschka!
Aber der Text geht doch an diesem Punkt zu Ende, bricht es grimmig aus Platsch hervor.
Das stimmt, pflichtet ihm Schdruschka bei; sein Gesicht ist auf einmal so von Kummer gezeichnet, dass ich in diesem Moment sogar ein gewisses Mitleid mit ihm empfinde.
Da – in diesen Moment klingelt ein Handy. Alle Anwesenden greifen in ihre Taschen. Eveline zieht ein schneeweißes Gerät unter dem Stoß der Seiten hervor.
Eine Mail, ruft sie mit erregter Stimme. Warten Sie, der Absender lautet - er lautet: God@Paradise.com.
Die Verwandlung, die in diesem Augenblick mit unserem Hausherrn Waldmir Schdruschka geschieht, ist kaum zu beschreiben. War sein Gesicht zuvor noch beinahe erloschen, so leuchtet es jetzt auf, beginnt zu strahlen.
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