Wie es seine Art war – mit zunehmendem Alter hatte sich diese Gewohnheit noch verschärft -, war seine Stimme zuletzt lauter und lauter geworden, sodass er am Ende beinahe schrie. Er schob den Teller mit der abgenagten Keule unmutig beiseite, warf seiner Frau einen vernichtenden Patriarchenblick zu und lehnte auf seinem Stuhl zurück.
Dollo, rief er, meine Pfeife!
Nun war es so, dass Dollo, ein leicht hinkender und unbestimmt schielender Mensch, erst vor kurzem im Hause Bubbo angestellt worden war, und zwar auf Betreiben Daphnes, die ein Herz für Menschen besaß, die das Schicksal mit Missgunst behandelt. Ganz gewiss gehörte Dollo zu dieser Kategorie, denn aufgrund seiner Behinderung hatte keine seiner bisherigen Anstellungen länger als ein bis drei Wochen gewährt. Für dieses Missgeschick schien sein leichtes Hinken nicht einmal den Ausschlag zu geben, eher war sein Schielen der Grund für allerlei unerfreuliche Zwischenfälle. So auch diesmal im Hause Bubbo.
Niemand hätte das Unglück voraussehen können. Denn Dollo gelang es ohne Schwierigkeit, die Pfeife aus der Dose hervorzuziehen, die sich auf der Kommode an der gegenüberliegende Seite des Speisezimmers befand. Mit der Geographie des Salons und der angrenzenden Zimmer war Dollo inzwischen hinreichend vertraut. Nur befand sich zwischen der Kommode und dem Eichentisch, an dem Bubbo mit seiner Familie und seinem Freund Dittlick gerade speiste, ein dreifüßiges Gestell, auf dessen Spitze ein Globus von etwa zweifacher Fußballgröße thronte.
Leider, so muss man sagen! Denn dieser Globus war der Grund für das eintretende Missgeschick. War es der schiefe Blick oder eine falsche neuronale Verdrahtung im Gehirn des armen Dollo – diese Frage wird sich im Nachhinein wohl nie endgültig klären lassen. Über die fatale Wirkung seiner Behinderung besteht jedoch kein Zweifel. Es gelang dem Diener nämlich, mit seinem rechten Bein so gegen einen der drei Füße des Globus zu stoßen, dass das Gestell sich neigte, Frau Daphne einen Schrei des Entsetzens ausstieß, und die Erdkugel aus Polyester sich aus ihrer Halterung löste und zu Boden stürzte. Wie es die Art aller Bälle und deshalb auch die eines ballartigen Globus ist, sprang dieser nach dem Aufprall allerdings gleich wieder in die Höhe, fiel neuerlich zu Boden und dieses Spiel hätte sich vielleicht noch einige weitere Male ereignet, wenn nicht etwas geschehen wäre, was als Denkwürdigkeit allen künftigen Generationen zumindest im Lande Tatu in die Erinnerung eingegraben sein wird.
John Bubbo, der kleine, schüchterne und gewöhnlich ängstlich zu Boden blickende Knabe hatte sich nämlich wieder einmal - leider war das seine ungehörige, von der Mutter oft genug getadelte Art – während des Essens vom Tisch entfernt, freilich ohne den Salon zu verlassen. Mit niedergeschlagenem Blick saß er auf dem Boden, scheinbar sinn- und zwecklos mit sich selbst beschäftigt. Da saß er nun auch in dem Augenblick, als der Globus zu Boden fiel und dort, ganz wie es ihm seine physikalische Natur als elastischer Ball nun einmal gebot, auf die übliche Art zu hüpfen begann. War es Schicksal oder Zufall? Jedenfalls traf es sich so, dass der Globus schnurstracks in Richtung des kleinen Bubbo hüpfte, und dass dieser, statt vor Schreck zurückzuweichen, im Gegenteil die Arme weit von sich streckte und die Erdkugel mit beiden Händen wie ein Geschenk des Himmels auffing und an seinen Körper presste.
So geschah, was bis heute in jeder Biographie von John Ronald Bubbo gleich zu Anfang als das prägende Kindheitserlebnis beschrieben wird: Der kleine Bubbo saß im Salon und umschloss die Welt mit seinen Armen – ein Ereignis, das von Politikern, Philosophen, Theologen und anderen Prominenten des Landes Tatu so oft und so ausgiebig besprochen wurde, dass es an diesem Ort nicht weiter kommentiert werden muss.
Nur eines ist wohl mit Sicherheit anzunehmen. Sein Vater, eine wenig fantasiebegabte und außerdem von oberflächlichen Reizen wie einer leckeren Hühnerkeule ganz und gar absorbierte Natur, hätte die historische Bedeutsamkeit dieses Ereignisses ganz gewiss nicht erkannt. Väter pflegen ja das Genie des eigenen Nachwuchses in den seltensten Fällen richtig zu würdigen, schon gar nicht, wenn der Apfel etwas weiter vom Stamme gefallen ist, was aufgrund der seltsamen Schüchternheit dieses Knaben ja durchaus nicht zu leugnen war. Hätte sich dieses Ereignis also im intimen Kreis der engsten Familie abgespielt, so wäre seine welthistorische Bedeutung niemals ans Licht gekommen.
Doch glücklicherweise war Dittlick, ein Mann von höchstem geistigen Weitblick, Zeuge der historischen Weltumarmung. Auf Anhieb erkannte er deren hohe symbolische und hochgradig prophetische Bedeutung.
Dittlick sprang von seinem Sitz auf. Zum ersten Mal strömte seine Stimme nicht mit der unerschütterlichen Gleichmäßigkeit eines Landregens aus seinem Mund, sondern heiser und erregt stieß es aus ihm hervor:
Unser künftiger Präsident! Seht euch das an, unser kleiner John hält den Planeten in seinen Händen!
Wie richtig ich den Text der Botschaft erfasst und aus dem Gedächtnis wiedergegeben habe, wage ich nicht zu sagen, denn beschäftigt war ich mit etwas anderem, nämlich der Lesenden selbst, die, während sie jene Zeilen las, völlig wehrlos war, meinen Augen schutzlos ausgeliefert. Es liegt eine gewisse Grausamkeit darin, einen Menschen zu mustern, abzutasten und anzustarren, der so mit einer Aufgabe beschäftigt ist, dass er die Zudringlichkeit eines Beobachters nicht abzuwehren vermag. Ich hätte es auch ganz gewiss nicht gewagt, eine Fremde, sagen wir, die Ehefrau des Astronomen Schdruschka, so anzublicken, wie ich es während der Lektüre tat, angenommen, es hätte sich bei ihr um eine mir unbekannte, beliebige Frau gehandelt. Was meinen Blick so beharrlich, so gnadenlos werden ließ, war die Entbehrung, die ich zehn Jahre lang zu erdulden hatte, aber in diesem Augenblick wieder gutmachen wollte, so als wäre es möglich, mich mit der ganzen Beharrlichkeit meines Blicks dafür zu rächen, dass dieser Körper sich meinem Zugriff ganze zehn Jahre entzogen hatte. Was meine Zudringlichkeit noch besonders herausfordern musste, war die restlose Identität der von meinen Blicken gierig abgetasteten Person mit jenem weiblichen Wesen, das damals von einem Tag auf den anderen, ohne Abschied, ohne Erklärung aus meinem Gesichtskreis entschwunden war. Die Haare, blond und glänzend, trug sie noch genauso an den Kopf gestrichen, wie das früher ihre Art gewesen war. Die beiden Grübchen auf ihren Wangen bildeten noch immer jene lustigen kleinen Vertiefungen, in denen sich ihr Lächeln verfing und gleichsam eine Zuflucht suchte. Ihre Zähne, die sie beim Lesen hin und wieder entblößte, glichen noch immer einer Perlenkette – wie gern hatte ich meine Lippen damals auf ihren Mund gedrückt!
Und die weiße Bluse hätte auch noch aus der Zeit unserer großen Liebe stammen können, sie trug sie genau so locker wie damals. Ich brauchte ihre Bluse auch nicht über der rechten Schulter zu lüften, um den Leberfleck vor mir zu sehen, den sie dort trägt: Er bezeichnete den Endpunkt unserer häufigen Spiele, wenn meine Hand zuletzt ihre Brüste liebkost und dann zu ihrem Hals gesprungen war, während sie auf dem Weg mit flüchtigem Finger über diesen Fleck zu streichen pflegte, der für mich weniger ein Fleck war als die letzte Station eines Rituals.
Nein, ich brauchte Eveline – die jetzt Frau Schdruschka hieß - nicht zu entkleiden, um ihren Körper vor mir zu erblicken, seine Architektur, seine Schönheiten, seine Verlockungen sind mir nicht weniger gut bekannt als die Geographie meines Arbeitsraumes, die Aufstellung der darin befindlichen Bücher und der Geranien, die ihn mit ihrem Grün und manchmal mit ihren rot leuchtenden Blüten ziehen. Doch dieses Wissen bereitet mir keinen Genuss, sondern verschafft mir eine Qual, so als sähe ich Eveline ausgestopft in einer Vitrine, zu der nur noch einer den Schlüssel besitzt, der Astronom Schdruschka. Für mich ist diese Frau auf einmal ein fremdes Wesen, eine Art glänzender Käfer, ein sonderbares Insekt, unberührbar, da sie einem anderen gehört, dem Mann mit dem Palatschinkengesicht und einem fremdartigen Lächeln.
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