Till Angersbrecht
Allah und die Klavierspielerin
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Inhaltsverzeichnis
Titel Till Angersbrecht Allah und die Klavierspielerin Dieses ebook wurde erstellt bei
Große und kleine Vögel
10 Uhr 55 vormittags
10 Uhr 56
11 Uhr
11 Uhr 9
11 Uhr 10, Startzeit
11 Uhr 15
11 Uhr 18
11 Uhr 19
11 Uhr 21
11 Uhr 23
11 Uhr 25
11 Uhr 28
11 Uhr 43
11 Uhr 49
11 Uhr 55
11 Uhr 58
12 Uhr
12 Uhr 1
Zwölf Uhr 3
12 Uhr 6
Zwölf Uhr 8
Zwölf Uhr 9
12 Uhr 16
Zwölf Uhr 18 und 10 Sekunden
Zwölf Uhr 18 und 30 Sekunden
Zwölf Uhr 18 und vierzig Sekunden
Zwölf Uhr 20
Zwölf Uhr 20 und 55 Sekunden
Zwölf Uhr 20 und 59 Sekunden
Zwölf Uhr 22 und 4 Sekunden
Zwölf Uhr 22 und 10 Sekunden
Zwölf Uhr 23 und 10 Sekunden
Zwölf Uhr 24
Zwölf Uhr 25 und 10 Sekunden
Ankunft
12 Uhr 25 und 11 Sekunden
Die ganz gewöhnlichen Tage danach
Impressum neobooks
Dort, ein Silberreiher, der auf langen Stelzen am Ufer eines Sees promeniert! Nur für kurze Zeit scheint er Gast zu sein. Es genügt ein Rascheln im Schilf, die unvermutete Bewegung eines Vorbeikommenden, vielleicht auch nur der Stoß eines Windes, um ihn wie einen Federflaum vom Boden zu heben. Die natürliche Bestimmung eines Silberreihers ist das Fliegen.
Wer würde dasselbe beim Anblick eines Airbus behaupten, der mit schwerfällig-massigem Körper auf einer Rollbahn steht? Wer würde ahnen, dass Silberreiher und Airbus die gleiche Bestimmung haben? Der hell glänzende Leib des Flugzeugs drückt wie ein Bleigewicht auf den Boden. Er besitzt so gewaltige Proportionen, dass ein Steinzeitmensch, zum ersten Mal auf einen Flugplatz der neuen Zeit geführt, niemals vermuten würde, dass ein derart mächtiger Körper sich je vom Boden erheben, geschweige denn sich in die Lüfte aufschwingen könnte. Selbst wenn dieser Rumpf mit den zwei steifen Armen schon über die Bahn zu rollen begänne, würde der überraschte Gast bis zuletzt auf den Flügelschlag warten und dann, wenn das Unglaubliche trotzdem geschieht, verstört und erschüttert das Wunder bestaunen, dass ein so unförmiger Riesenvogel, wie von der Hand eines kundigen, aber unsichtbaren Geistes von oben am seinem Genick gepackt, mühelos, als hätte er alle Schwere plötzlich von sich gestreift, steil in die Höhe strebt.
Überwältigt von Ehrfurcht, würde der Steinzeitmensch den großen Unsichtbaren anbeten. Denn nur ein Gott bringt es fertig, einen Körper, groß wie ein Gebirge, das eben noch dreihundert Menschen in seinem Bauch verschlang, so leicht in die Luft zu entführen, so als hätte er bloß nach einem Kinderspielzeug gegriffen.
Voller Furcht und Zittern würde der Steinzeitmensch dann wohl auch eine Reihe seltsamer Gesten und Riten vollführen, damit das silberne Wesen, das sich seinen Blicken am Horizont allmählich entzieht, bis es schließlich ganz außer Sicht gerät, nicht plötzlich vom Himmel fällt.
Die Furcht und das Zittern sind durchaus verständlich. Ganz anders als wir Menschen der Technik, gewohnt die Natur nur noch in Zoos und Aquarien zu erleben, weiß ein Mensch, der vor zehntausend Jahren lebte, dass Vögel jeglicher Art immer in mindestens zwei Zuständen existieren. Er kennt den Reiher in seinem Silberkleid, bewundert ihn wie einen Tänzer, wenn er sich voller Lust und Leichtigkeit vom Boden zum Himmel schwingt. Aber ebenso kennt er den zerbissenen Vogel, dessen Flügel vom Schlamm verschmiert und dessen Federn über eine Wasserlache verstreut sind, in der sogar am folgenden Tag noch ein Schimmer von Blut zu entdecken ist. Der Hals ist gebrochen, die Beine wie in Stücke zerhackt. Der Mensch der Vorzeit hat aus Erfahrung gelernt, dass alle Vögel der Welt irgendwann auf diese Weise ihr Leben beenden. Und deswegen führt er seine Rituale und Gebete aus, um die Hilfe der Götter gegen den Tod zu suchen.
Wie steht es also mit diesem Vogel, der größer, massiger und mächtiger ist als alle anderen, die er jemals gesehen hat?
Natürlich ist dem Gast aus der Urzeit nichts davon bekannt, dass ein die Evolution den Reiher gefertigt hat, und zwar in einem mühevollen Prozess voller Umwege, Engpässe und plötzlichen Überraschungen, weil einmal das Auge erfunden wurde, ein anderes Mal die Atmung der Lungen und schließlich auch noch das warme pulsierende Blut. Und noch weniger kann er wissen, das dies alles wie in einem Puzzle exakt aufeinander abgestimmt werden musste - stimmte eines der Teile mit den übrigen nicht zusammen, dann war es nötig, den ganzen Prozess an einem früheren Punkt von vorn erneut zu beginnen. Wie soll unser Gast da ahnen, dass der unförmige Airbus, dessen Anblick ihn vor Schrecken und Ehrfurcht erstarren ließ, nicht von einer blind experimentierenden Evolution in Millionen von Jahren geschaffen, sondern von gewöhnlichen Menschen ersonnen wurde, Menschen wie seinesgleichen. Die haben den gewaltigen Vogel in der erstaunlichen Zeitspanne von nur dreißig Jahren geschaffen.
Wenn unser früher Verwandter sich verwundert die Frage stellt, warum seine späten Erben ihm mit einem so herrischen Stolz begegnen, dann mag er hier nach der Antwort suchen. Der heutige Mensch kann es kaum fassen, dass die Evolution an einen einfachen Silberreiher Millionen von Jahren verschwenden musste, während er selbst einen tausendfach größeren und schnelleren Vogel in drei Jahrzehnten erfand!
Aber man glaube nicht, dass der Mensch die Natur deswegen matt zu setzen vermochte. Reiher und Airbus sind sich auf unheimliche Weise ähnlich. Der neue Mensch möchte das gern vergessen, aber der Steinzeitmensch hat sich davon eine Ahnung bewahrt, weil er sich so genau an die Flecken von Blut in der Lache erinnert und an das Entsetzen, mit dem er das erste Mal daran vorüberging. Der heutige Mensch weiß wenig oder will auch nichts davon wissen, dass Airbus und Reiher trotz ihrer unterschiedlichen Abkunft und Entwicklungsgeschichte dennoch ein und dieselbe Zukunft teilen. Er will von dieser Zukunft nichts wissen, aber er täte gut daran, immer an die gesamte Geschichte seiner künstlichen Reiher zu denken.
Zunächst wird der große Vogel in einer Fabrikhalle ausgebrütet, aus der man seinen schimmernden Leib von Traktoren langsam ins Freie ziehen lässt. Dann kommt der Moment, da er sich zum ersten Mal in die Lüfte erhebt, und zwar nicht unsicher und zögernd wie sonst jeder Nestling, der sich erst noch auf seine Instinkte besinnt, sondern gleich mit der Majestät der Vollendung. Ein Airbus tritt sozusagen seit dem ersten Moment seines Daseins als Erwachsener in die Welt; er braucht nicht aus Erfahrung zu lernen und die neue und fremde Wirklichkeit vorsichtig zu ertasten. So wie er sich beim ersten Mal in die Höhe hebt, unbeirrbar in seiner Richtung, verlässlich und stolz in seinem Auf- und Höhenflug, wird er es danach unzählige Male tun, weder besser noch schlechter als am ersten Tag seines Jungfernflugs.
So tritt er als Vollendeter in das Dasein wie ein singender, tanzender, mit sicherem Flügelschlag federleicht in die Höhe geschwungener Silberreiher, wie ihn nach Meinung unseres Gastes ein poetischer, die Schönheit liebender Gott und nach Auskunft unserer Wissenschaften die prosaische Evolution an einem unsichtbaren Reißbrett geplant und geschaffen hat. Dies ist der makellose Zustand eines A340-300, aus dessen in der Länge sechzig Meter zählendem silbrig glänzenden Leib zwei Schwingen von etwa fünfundzwanzig Metern Länge zu beiden Seiten abstehen, um ein Gewicht zu tragen, das insgesamt etwa dem von hundertzwanzig Autos zu je einer Tonne entspricht, wobei man allerdings hinzusetzen muss, dass dies erst seine unbeladene und unbetankte Daseinsform ist, denn vor der Fahrt frisst die Maschine noch einmal hundertfünfzig Tonnen Kerosinfüllung in sich ein. Danach lässt sie bei vollständiger Buchung bis zu zweihundertfünfundneunzig Menschen in ihrem Leib verschwinden, Menschen, deren gesamtes Lebendgewicht sich im Schnitt auf 25 Tonnen beläuft, während das sie begleitende Gepäck mit etwa sechs Tonnen zu veranschlagen ist.
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