Eine Zeitlang hatte Behrends geglaubt, dieser Verlust habe etwas mit der verlorenen Jugend zu tun. Liegt es an mir?, fragte er sich. Bin ich in diesen Jahren ein anderer geworden? Nein, das ist nicht der wahre Grund. Ich selbst habe mich nicht verändert. Die Welt da draußen hat sich gewandelt. Das Fliegen ist nicht mehr dasselbe. Es ist einfach nicht mehr, was es in der Vergangenheit war: Abenteuer, Spannung, Erneuerung. Es ist Routine geworden, ein Job wie alle anderen.
Nach wie vor sitzt Behrends auf dem Pilotensessel, weil das nun einmal der Beruf ist, in dem er sein Geld verdient, das einzige Metier, das er beherrscht. Aber er verrichtet diesen Beruf ohne Spaß, die schönen Gefühle von früher wurden zerrieben. Fliegen ist für ihn nur noch Gewohnheit und tägliche Pflicht. Kein Schauer läuft ihm über den Rücken, wenn sich unter ihm der schwere Körper vom Boden hob, kein Gefühl des Triumphs. Nur die Erinnerung daran ist ihm als Souvenir an eine andere Zeit geblieben.
Nein, an seiner eigenen Person hat sich nichts geändert. Das wird ihm niemand vorwerfen können. Er, Norbert Behrends, ist gewissenhaft wie er es immer war. Nie haben sie an ihm auch nur das Geringste aussetzen können. Zwanzig Jahre Berufserfahrung, das merkt man einem Piloten natürlich an. Einen Fehler würde sich ein Mann wie er niemals leisten. Er ist verlässlich und absolut berechenbar, so wie diese Maschine, die für ihn zu den besten zählt, besser noch als die amerikanischen Fluggeräte.
Und dennoch weiß Behrends, dass er sich selbst betrügt. Auch mit ihm ist etwas passiert. Es stimmt nicht, dass er noch derselbe wie früher sei. Da ist doch nicht mehr als die äußere Hülle geblieben.
Auch solche Gedanken kommen ihm an diesem nebligen Tag. Vielleicht bin ich innen schon hohl. Ist es nicht so? Man ändert sich doch langsam von innen, so wie ein Haus, das die Termiten von innen zernagen. Von außen merken die Leute lange Zeit gar nichts. Ich handle wie eine mechanische Gliederpuppe, die im Cockpit ihre einstudierten Bewegungen absolviert: eine schön nach der anderen. Aber mein Kopf hat damit nichts mehr zu tun. Im Kopf herrscht gähnende Leere. Wie nennen sie das in Amerika? Living Zombies! Na, vielleicht ist es nicht ganz so schlimm. Kapitän Behrends ist doch hervorragend geschult, gut gedrillt, verlässlich abgerichtet. Aber ist es nicht ein bedrohliches Zeichen, dass mir solche Gedanken überhaupt kommen? So weit ist es mit mir, dass ich mich selbst schon für eine Gestalt aus dem Fernsehen halte.
Genauso kommt es mir manchmal vor, genauso als würde sich das Leben von Norbert Behrends nur im Fernsehen abspielen, wobei dem Herrn Kapitän der Sinn für die Wirklichkeit allmählich abhanden kommt. Die Leute, für die ich die Verantwortung trage, die dreihundert Gestalten, die da in meinem Rücken sitzen, sind für mich ja auch bloß Nummern, nicht besser als die Leute, die auf einem Schirm vorüberflimmern. Das sind Schemen, Geister, Gespenster. Ich kenne sie nicht, sie kennen mich nicht. Gemeinsam ziehen wir durch den Äther und bleiben doch Fremde vom Start bis zur Landung, auch wenn sie meine Stimme ein paar Sekunden lang hören.
„Hier spricht zu ihnen Kapitän Behrends, ich begrüße Sie herzlich zum Flug Nr. usw.“ Diese Worte könnte auch ein Roboter sprechen. Die Leute hören da sowieso nicht hin. Wer erinnert sich schon nach einem Flug an den Namen des Kapitäns?
Und zu allem Überfluss noch dieser Ausblick in die Hamburger Nebelsuppe. Was ist wirklich an dieser Welt? Ist das etwa realer als ein Fernsehbild? Alles huscht an dir vorüber, Erscheinung des Augenblicks, Gespenster und Nebel und aus dem Nebel düstere Massen von Stein und Beton.
Woher kommen diese Gedanken? Sie waren doch früher nie da? Du bist krank hätte ich mich damals gescholten und sie mit einer Bewegung der Hand von mir gescheucht. Aber jetzt nützt keine Bewegung, sie kommen wieder, irgendwo aus dem Nebel oder dem Dunkel und lauern mir auf. Vielleicht bin ich jetzt fortwährend krank, obwohl mir organisch nichts fehlt und mich meine Umgebung nach wie vor für ganz kerngesund und noch dazu für tüchtig hält. Irgendetwas ist mit mir geschehen. Das Fliegen und ich, alles zusammen hat sich geändert. Damals war ich ein Held, so wie Saint Exupéry. Jeder natürlich auf seine eigene Weise, ich will keine falschen Vergleiche ziehen. Aber ich fühlte mich als ein Held, und darauf kommt es ja schließlich an. Und jetzt, was ist von dem Helden übrig geblieben? Jetzt bin ich nur noch ein Arbeitssklave, der statt am Fließband zu sitzen an den Sessel im Cockpit gefesselt ist. Ein Arbeitssklave erlebt und entdeckt nichts mehr, für ihn ist jeder Tag wie der andere. Selbst den Sonnenschein erlebt er als Nebel und Nieselregen. Für mich stehen noch zehn weitere Jahre bevor - zehn lange, unendliche Jahre nichts als Nebel und Nieselregen.
Zehn Jahre lang werde ich auf diesem Sessel wie ein Roboter sitzen und meine Pflicht erfüllen. Die Leute, die mich hier sehen, werden mich als Kapitän Behrends begrüßen, ganz wie in der Vergangenheit. Sie werden nicht einmal merken, dass ich in Wirklichkeit längst ein Roboter bin.
Ob das jedem einmal passiert? Ob Saint Exupéry plötzlich auch genau diese schrecklich Ahnung hatte, und sich dann dazu entschloss, die Maschine mit dem Bug auf den Himmel zu richten, bis sie senkrecht nach oben zeigte, denn da wollte er ja hin? So könnte das schon gewesen sein. Jedenfalls ist ja bis heute nicht klar, warum sein Flieger über dem Mittelmeer abgestürzt ist.
Wenn Norbert Behrends in diesem Augenblick innerlich lacht, eine Regung, die er sich natürlich nach außen nicht anmerken lässt, dann deshalb weil er sich diese merkwürdige Frage stellt. Vielleicht werde ja auch ich, bevor die zehn Jahre um sind, das Ding einmal direkt in den Himmel fliegen.
Mit flüchtigem Blick streift Behrends den schweigend neben ihm sitzenden Kroschke, so als befiele ihn plötzlich die Befürchtung, dass die absurden Gedankenmäander in seinem Kopf auf den Kopiloten überspringen und ihn verraten könnten.
Ob der Mann auch bisweilen von so verrückten Gedanken geplagt wird? Behrends beruhigte sich augenblicklich. Er war sich sicher, dass Kroschke in aller Regel wohl überhaupt nichts denkt, schon gar nichts Gefährliches.
Man muss es als eine Glück oder eine wohlerwogene Strategie der Vorsehung betrachten, dass die beunruhigenden Gedanken eines alternden Flugkapitäns nicht anders als die aller anderen Menschen von einer mehrere Millimeter starken Schädeldecke gegen die Außenwelt abgeschirmt sind. Diese Kopfwand scheint absichtlich so eingerichtet, dass normalerweise kein Gedanke nach außen dringt, ausgenommen natürlich so seltene und von vielen überhaupt bestrittene Ausreißer wie Gedankenübertragungen durch Telepathie, die aber bei einem Mann wie Kroschke gewiss nicht in Frage kommen.
Auch Ute Dalz, die dem Kapitän kurz zuvor den heißen und süßen Kaffee servierte, ahnt glücklicherweise nichts von dessen melancholischer Geistesverfassung. Niemand ahnt etwas von Behrends reichlich vernebelten und verdüsterten Gedanken, für die das Hamburger Wetter vermutlich einen wesentlichen Teil der Verantwortung trägt. Die Passagiere, die sich dem heutigen Flug wie einem beliebigen anderen bereitwillig überlassen, betrachten den Airbus als eine wohl geprüfte und tausendfach bewährte Maschine, nicht anders als eine beliebige Eisenbahn oder Fähre. Maschinen haben die Gesetze der Physik zu erfüllen, die bekanntlich im ganzen Universum die gleichen sind. Deshalb rechnet natürlich auch jeder vorbehaltlos damit, dass der Airbus mit absoluter Verlässlichkeit den Vorschriften des ihm von oben zugeteilten Fahrplans gehorcht. Dass diese Maschine sich den Fingern eines Menschen zu fügen hat und womöglich gar seinen Launen, derart verstörende Überlegungen bleiben den Passagieren erspart und den meisten von ihnen überhaupt ganz verborgen. Schon gar nicht denken sie darüber nach, dass der Mensch in der Pilotenkabine seinerseits ein höchst komplexes Gebilde ist, dessen geistige Befindlichkeit schwankenden hormonalen und neurologischen Vorgängen unterliegt, wie sie sich in seinem Nervensystem an Millionen höchst störanfälliger Synapsen ereignen. Nein, die Leute, die da ihre Sitze in dem silbernen Leib eines Airbus einnehmen, denken, wenn überhaupt, dann ausschließlich an die Naturgesetze. Der Mensch, der sich ihrer nicht bloß bedient, sondern sie wie Saint Exupéry sogar zu eigenen Zwecken zu manipulieren vermag – ein solcher Mensch spielt in ihren Überlegungen keine Rolle.
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