Till Angersbrecht
Wien!
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Inhaltsverzeichnis
Titel Till Angersbrecht Wien! Dieses ebook wurde erstellt bei
Dr. Brohh
Die Verengung der Welt
Elli Koschinsky
Die schöne Leich
Rosen, Rosen, Rosen
Auch das noch!
Es brodelt in meinem Kopf
Ein Loblied auf Forchtel
Thomas Bernhard war hier zu Gast
Die Zureiterin
Zwei Araber am Gürtel
Todessehnsucht
Kein Server!
Im Stephansdom
Kaiser Konny
Im Demel
Dr. Pittorius
Der Handaufleger
So etwas dulde ich nicht!
Dreht sich der Erdball noch?
Hinter den Butzenscheiben
Die Gürtel-Rose
Bin ich ein Spinner?
Muezzin raus aus Wien!
Quälende Überlegungen
Der Naschmarkt
Ich beginne meinen Bericht
I bin dei Präsident, Schani
Albert
Zur Salztorbrücke
Die Insel der Seligen
Lisa ist aufgelöst
Werft euren Schmuck ab, der verführt zur Sünde!
Die Kraft der Netsukes
Böse Gedanken
Die letzte Brücke
Kräfte der Selbstheilung
Der Gescheiterte
Schlägerei im Café Demel
Ich spreche das erlösende Wort
Gusti Semmelweiß
Er hat uns alle verhext
Gott will es, du Schlampe!
Entführt
Der Wiener Polizeipräsident
Alles völlig normal
Die Ironie der Natur
Der Hengst im Dom
Die übrigen Araber wurden verspeist
Die Unterwelt
Sehr geehrter Herr Chefredakteur!
Ich bin allein
Schreie aus einem Festsaal
Die Verheißung
Es geschah auf dem Heldenplatz
Der Tag des Heiligen
An der Marienbrücke
Der Fall
Eine schwankende Menge
Abstieg in die Hölle
Der Spielberg
Die Frau mit dem Messingschopf
In der Himmelpfortgasse bei Gusti
Der Plan
In die Furche gestreut
Conditio humana
Der Leutnant
Im leopoldinischen Trakt
Die kleine Ewigkeit einer verströmenden Zeit
Der Mann auf der Estrade
Unendlichkeit aus der Enge
Wien!
Impressum neobooks
Wien!
Till Angersbrecht
Jeder Morgen ist im Nachhinein hell, strahlend hell. Umso lichter, je weiter er in der Vergangenheit liegt. So war es auch damals, ich in diese Stadt gelangte, ein Morgen, wie er nicht schöner sein konnte. Denn natürlich habe ich meine Verpflanzung an die Ufer der Donau als einen Aufstieg erlebt – und als ein großes Kompliment noch dazu, denn ich hatte mit meinen zwei, drei Feuilletons die Aufmerksamkeit meines Chefs erregt. Gelungen waren sie schon, aber was will das schon heißen? Meiner Unzulänglichkeiten bin ich mir, offen gestanden, nur zu deutlich bewusst. Dass jemand ein paar halbwegs zusammenhängende Zeilen zustande bringt, ist ja wirklich keine besondere Leistung. Das gelingt beinahe jedem, der das Alphabet in der Schule gemeistert hat. Doch war es nun einmal so, dass mein lieber Chef, Erbrecht Ebenholzer, einen Narren an mir gefressen hatte. Und verständlicherweise war ich der Letzte, ihn deswegen zu tadeln. Aber dass ich seit einiger Zeit an nichts anderes mehr dachte als an meine künftige Rolle in Wien, dieser einzigartigen und noch dazu einzigartig seltsamen Stadt, ist zweifellos richtig. Denn Sonderbares gibt es dort wirklich zu Hauf. Von glaubwürdigen Augenzeugen war mir manches berichtet worden, z.B. von Herren der alten Schule, die einer Frau mit den Worten „Küss die Hand, meine Gnädigste“ ihre Aufwartung machen.
Welch ein Märchenreich, dachte ich. Dort lebt sie noch, die überall sonst längst versunkene Zeit! Und die Reichen und Schönen, so wusste ich ebenfalls, strömen dort alljährlich auf dem Opernball in einem unglaublich vornehmen Bauwerk mitten im Herzen der Stadt zusammen, nur um ein Fest des Eros zu zelebrieren, das außerhalb dieser Insel der Seligen nur in lausigen Techno-Discos gefeiert wird. Als Student hatte ich die Donaumetropole schon mehrfach, wenn auch immer nur kurz, besucht. Ich liebte sie auf den ersten Blick, diese Stadt im vornehmen Frack: wo im ersten Bezirk um die Hofburg noch immer der Kaiserlook der alten Habsburger Monarchie die Besucher in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Unsereiner kommt doch gewöhnlich aus Städten, wo man sich fühlt wie unter einer Motorhaube: links und rechts pochende Kolben, Filter, Dynamos - kurz alles, was für das mechanische Funktionieren notwendig ist. Wien dagegen lebt die ganzen sieben Tage einer Woche in poetischem Festgewand, davon hat man bei uns gar keine Ahnung. Die meisten heutigen Städte tragen das ganze Jahr ja nur die prosaische Kleidung von Alltag und Arbeit, Arbeit und Alltag.
Wie schön diese Stadt doch ist – das war es, was meinen Kopf wie ein Fusel in angenehme Verwirrung versetzte. Und ihn auch jetzt noch in diese belebende Stimmung versetzen würde, wenn sich nicht inzwischen etwas ereignet hätte, das mit dem Wort ‚ungeheuerlich’ völlig unzureichend benannt ist, aber an dieser Stelle nur angedeutet sein kann.
Zu der Stadt an der Donau, wo meine Tätigkeit nun beginnen soll, gehört für mich auch Dr. Brohh, der Geheimnisvolle! Seine Aufsätze hatte ich natürlich schon vorher gekannt und war bei ihrer Lektüre jedes Mal ins Schwärmen geraten. Labyrinthisch erscheinen sie mir, diese überaus klugen Essays, so verschlungen, so voller unerwarteter Veduten. Manchmal sind es Ausblicke ins Weite, manchmal Pfade, die in die Tiefe wie in Abgründe führen. Logik spielt für Dr. Brohh nur eine untergeordnete Rolle, dennoch versteht ihn jeder gleich auf den ersten Blick. Der Mann denkt in Gefühlen. Ich war so angetan von seinen Stücken, dass ich mich sogar zu drei, vier Zeilen einer Lobeshymne verstieg.
„Jede Stadt hat ihre Besonderheiten, Shiras seine Rosen, Venedig seine Kanäle, Rom das Kolosseum, aber Wien brüstet sich mit ganz anderen Dingen: Es hat seinen Geist, der sich regelmäßig in sterblicher Hülle verkörpert, und zwar in keinem Geringeren als Dr. Hieronymus Brohh. Der ist seines Zeichens Orakel, genauer gesagt, ein Kaffeehausorakel, dessen Verlautbarungen über Gott und die Welt unter den führenden Kreisen der Stadt einen hervorragenden Ruf genießen. Dr. Brohh schreibt über alles: über Gott, den Teufel, den letzten Kaiser und den Anstieg des Meeresspiegels. Natürlich ist er nirgendwo kompetent, wie es Fachleute sind, die nur von ihresgleichen gelesen werden. Nein, Dr. Brohh wird gerade deswegen von allen verstanden, weil er aus der Tiefe des Bauches redet.“
Glücklicherweise habe ich diese pathetischen Zeilen über den Bauchredner Brohh gar nicht erst abgeschickt, sondern sie dem Papierkorb zu fressen gegeben. Brohh – Brohh mit Doppel-H, bitte schön, wie er stets zu betonen pflegt – hat mein Lob nun wirklich nicht nötig: Er ist eine Wiener Institution. Ich würde sagen, dass man ihn aus Wien so wenig wegdenken kann wie den Stephansdom, die Lippizaner, das Burgtheater, den Parteienproporz oder die Kapuzinergruft. Deswegen gab es unmittelbar nach meiner Ankunft für mich auch gar keine andere Wahl, als mich um ein Treffen mit dem stadtbekannten Mann zu bemühen. Wie sollte ich Wien und seine Menschen ergründen, ohne dabei aus dem hierzu berufensten Munde belehrt zu werden?
Brohh imponiert mir sogleich durch seine Körperfülle. Stattlich, geht es mir durch den Kopf, diese großzügige, imponierende, geradezu einschüchternde Leibesmasse. Als literarischer Anfänger dürfte man sich, so wollte es mir scheinen, eine solches Volumen nicht leisten. Das will verdient und erarbeitet sein.
Brohh lächelt mir skeptisch, wenn auch keineswegs unfreundlich zu, als ich ihm meinen Vorsatz eröffne, in die Tiefen der Wiener Seele vorzudringen. Deswegen sei ich hier.
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