Georg, der Sechsjährige aus Rissen, blickt in den Nieselregen, deutlich sieht er nur den Flügel, wenn er den Kopf nach hinten wendet, aber in dem Augenblick, als die Turbinen das ganze Flugzeug zum Schwingen bringen, glaubt er in seinem Körper denselben Antrieb und eine wunderbare Wärme zu fühlen. Er spürt, wie eine Hand ihn von unten erfasst, wie sie ihn schüttelt und dann in die Höhe bläst, als wäre er nichts als ein Taubenflaum, mit vollen Backen vom Wind zu den Wolken getrieben.
Wie auf einem fliegenden Teppich, flüstert er. So machen es alle Zauberer. Und weil Georg durch den immer noch dichten Nebel sogar die glühenden Augen des Zauberers sieht, der den Teppich mit ihm in die Höhe schleudert, eben deshalb sieht er durch den grauen Vorhang hindurch auch alles andere, was die Erwachsenen nicht sehen - die Häuser und Straßen und Spielzeugmenschen, die alle zum Himmel blicken, um ihn auf seinem Teppich zuzuwinken. Und da unten schaut er auf die grünen Wiesen hinab mit all den lustigen Kühen und die Pferde sieht er, die bei seinem Anblick wiehernd über die Felder stieben. Und plötzlich wird er durch eine weiße Schaumwand getragen, die wie ein Schleier zerreißt. Sonne strahlt durch das runde Fenster.
Ja, es ist die wirkliche Sonne. Eben haben sie die Wolkenschicht bis nach oben durchstoßen und gleiten nun über eine Landschaft aus Wattehügeln. Ringsumher wogen Dünen aus Schnee und überall türmen sich weiße Kissen.
Herr und Frau Meierdom haben in ihrem Leben nicht viele Flüge gemacht, genauer gesagt, ist das exakt ihre dritte Reise in einer Höhe von zehn Kilometern über dem Boden. Zuvor waren sie nur auf einem Charterflug auf das heiße Mallorca geflogen und später zu einem Treffen von Dackelbesitzern in Frankfurt am Main. Als die Stöße vom Boden her immer sanfter werden und auf einmal völlig zur Ruhe kommen, die Spannung sich legt, weil die Maschine lautlos nach oben strebt, klopft auch bei Herrn Meierdom, von Bauch und Brust her kommend, vorsichtig ein Gefühl von Erleichterung, ja sogar von Euphorie an das Tor seines Bewusstseins. Er spürt, wie sein Blut in Wallung kommt. Doch diese aus den Tiefen stammende Regung, die den schwelenden Ärger dämpfen könnte, ist ihm irgendwie peinlich. Er fast sie als kindische Anwandlung auf und schämt sich für den merkwürdigen Vorgang. Schon bei seinem ersten Flug hatte er sich bemüht, ihn durch die strengste Sachlichkeit zu betäuben. Würde nicht jeder, der sie an ihm wahrnehmen könnte, sofort daraus schließen, dass Flugreisen für ihn etwas Ungewohntes und immer noch Aufregendes sind? Absichtlich gähnt er, und zwar durchaus hörbar für seine Nachbarn, um ein Signal zu setzen, dass das Fliegen ihm absolut nichts bedeutet.
Da fährt auf einmal von unten her ein hörbarer Schlag durch die Maschine. Georg blickt zu seinen Nachbarn, ob die das ebenso bemerken. Jeder, der zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzt, fühlt sich durch derartige Geräusche beunruhigt. Ist vielleicht gerade ein äußerer Gegenstand auf die Maschine geprallt? Herr Meierdom hat den Schrecken im Gesicht des Kleinen bemerkt, er lächelt ihm beruhigend zu, denn er hat in dem Gepolter das ganz normale Geräusch erkannt, mit dem der Airbus die Räder in seinen Rumpf einzieht. Gleich danach wird aus den leisen Erschütterungen ein gleichmäßiges, fast einschläferndes Rauschen. Der Schlag hatte nichts zu bedeuten. Für manche ist jetzt der Moment gekommen, um versäumten Schlaf nachzuholen. Das Rauschen eines Flugzeugs in zehntausend Metern Höhe und bei ruhiger Atmosphäre ist so wohltuend wie das gleichmäßige Klappern der Geleise, wenn Reisende in einer Eisenbahn im wohl gepolsterten Schlafwagen die Augen schließen. Wenn da nur nicht die Gestalt auf dem nächstgelegenen Bildschirm wäre! Eine Comic-Figur, Donald Duck vermutlich.
Ehe man sich davon ablenken lässt, erscheint eine hell gekleidete Stewardess, die den Passagieren mit verführerischem Lächeln die Vorzüge des Schwimmens für den Notfall erklärt. Sie beginnt mit dem üblichen Ritual der eurythmischen Übungen. Mit der Schwimmweste in der Hand, die sie wie ein begehrtes Maskottchen schwenkt – vielleicht deutet sie damit auf die brüderliche Nähe der beiden Elemente von Luft und Wasser hin - unterweist sie ein gelangweilt dreinschauendes Publikum, wie man sich kunstgerecht damit verkleidet, falls der Kapitän die werten Fahrgäste auf halber Strecke zwischen Hamburg und München zum Aussteigen auffordern müsste.
Erwachsene stellen nur selten Fragen. Wie jeder weiß, hängt das damit zusammen, dass sie aufgrund ihrer Lebensjahre durch und durch vernünftige Wesen sind. Selbst mit Verwunderung halten sie sich zurück, denn diese könnten andere ja als peinliches Eingeständnis von Unwissenheit oder gar Mangel an Erfahrung deuten. Nur ein sechsjähriger Junge darf sich noch wundern und ungeniert dem eigenen Verstand vertrauen.
Fliegen wir über das Meer? flüstert er so laut, dass seine Nachbarn es hören. Neben ihm sitzt ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, Inge Wondrich, die den geflüsterten Satz sehr wohl hört. Zwar ist niemand verpflichtet, von dem allein reisenden Kleinen Notiz zu nehmen, aber das Mädchen beugt sich zu dem Jungen hinüber und flüstert zurück.
Manchmal fahren die Leute in diesen Maschinen auf Badeurlaub.
Sie sagt es mit einem Lächeln.
Georg nickt und blickt dann wieder hinaus auf die weiß leuchtende Decke aus wogenden Dünen. Dabei hat er das Gesicht der Mutter vor Augen, ganz deutlich sieht er, wie sie von einem der Wolkentäler zu ihm herüberblickt. Eben noch stand sie unten mit ihm in der Flughafenhalle mitten unter all den Menschen. Bevor sie sich umdrehte, um ihn zu verlassen, beugte sie sich zu ihm herunter und streichelte ihm über das Gesicht. Dann gab sie ihm einen Kuss, aber wie immer tat sie es hastig und schickte sich dabei schon zum Gehen an.
Die Dame, sagte seine Mutter und wies auf die neben ihr stehende Stewardess, bringt dich ins Flugzeug und setzt dich dann auf einen schönen Fensterplatz. Den habe ich extra für dich bestellt, damit du von oben auch alles sehen kannst. Und wenn du in München bist, bringt sie dich bis in die Wartehalle zu deinem Vater. Du wirst schon sehen, so ein Flug ist echt toll. Der bringt dir viel Spaß.
Während der letzten Worte drehte sie sich bereits eilig um, draußen vor der Halle wartete das Taxi.
Georg hatte zu Boden geblickt, ohne seiner Mutter ins Gesicht zu schauen. Er war ganz steif geworden.
Komm schon, sagte die Stewardess, die seine Hand ergriff und dann mit ihm durch die Sperre eilte.
Auf das Flugzeug hat er sich natürlich gefreut. Von seinen Schulkameraden sind erst zwei mit einem so großen Airbus geflogen, die meisten saßen noch nie in einem Flieger. Und vielleicht haben die zwei auch nur angegeben und sind in Wirklichkeit nie geflogen. Die wollen ja nur die ersten sein! Schon mehrere Tage hat er von diesem Augenblick geträumt. Seltsam, in seinen Träumen ist der Airbus fast jedes Mal abgestürzt. Aber das ist bei Flugzeugen ja völlig normal. Deswegen sollte man eigentlich von vornherein eine Schwimmweste tragen. Flugzeuge stürzen immer ab. Im Roaring Spider zum Beispiel, dem Spiel, wo die gelben gegen die roten Maschinen kämpfen. Da purzeln sie alle nacheinander hinunter. Aber dem Spiderman macht das nichts. Der kriecht jedes Mal lebend aus dem Wrack wieder heraus, obwohl er dann natürlich zusammengeflickt werden muss, weil ein Arm oder ein Bein noch in den Trümmern steckt. Wenn wir abstürzen, krieche ich auch unter der Maschine wieder hervor. Da kann mir überhaupt nichts passieren. Das hat mir auch Mama gesagt.
Roaring Spider ist aber nur ein Spiel; eine echte Maschine mit Tausend Menschen drin, vielleicht sogar mehr, die stürzt natürlich nicht so leicht ab, weil der Kapitän das nicht erlaubt. Der muss ja auf die Reisenden achten. Aber meinetwegen soll die Maschine ruhig irgendwo purzeln, wenn ich nur unten heil aus den Trümmern komme. Dann wird meine Mutter stundenlang nach mir rufen und mich nicht sehen, weil ich mich irgendwo im Rumpf oder unter einem Flügel verstecke. So hat sie schon einmal gerufen, als ich im Keller saß und mich hinter dem Öltank versteckte. Sie hat den ganzen Morgen gerufen und dann noch mit den Nachbarn nach mir gesucht. Aber wenn ich mich echt verstecke, dann findet mich niemand. Ich kann mich so gut verstecken wie eine Katze. Sie hat in der Nähe gerufen, sie war einmal nur wenige Meter entfernt, aber ich habe einfach still gehalten. Der Mittag kam und dann der Nachmittag, aber als es Abend wurde, na ja, es war im Keller schrecklich dunkel, außerdem wurde es kalt. Dann bin ich eben nach oben gegangen. Sie hat geschimpft, sie schimpft ja immer. Frauen können eben nicht anders, die müssen schimpfen. Aber schließlich war sie doch froh, dass ich zurückgekommen bin. Sie hat ja nur mich. Dann habe ich ihr auch versprochen, nie wieder wegzulaufen.
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