„Demnach glaubst du, Macht führt zwangsläufig zu Schuld?“, forderte Hanna ihn heraus. „Ist das nicht eine zu einfache Erklärung."
„Ich denke, du hast sehr wohl verstanden, dass dies nur ein Beispiel war, Angel“, sagte er in leicht tadelndem Ton. „Da-von könnte ich dir noch viele nennen, die verdeutlichen, dass Menschlichkeit in der Politik zunehmend auf der Strecke bleibt. Es ist völlig nebensächlich, wie viele Soldaten und Zivilisten in einem Krieg sterben. Es geht nur darum, die Oberhand zu behalten. Wenn die Politiker uns das im großen Stil vor-leben, warum soll der Otto-Normal-Verbraucher nicht ebenso handeln? Wer sich ihm in den Weg stellt und nicht spurt, kriegt eins auf die Mütze. Es ist höchste Zeit, dass wir uns wieder auf das Wesentliche besinnen.“
„Könnte dabei nicht ein religiöser Glaube helfen?“, überlegte Hanna. „Die Kirche hat sich schon immer...“
„... am Spiel der Macht beteiligt“, warf Jakob ein. „Besonders die katholische Kirche. Sie predigt Nächstenliebe und hält seit Jahrhunderten am Zölibat fest. Andererseits deckt sie ihre Priester, die heimlich eine Familie haben, zahlt Unterhalt für deren Kinder von unseren Kirchensteuern. Das ist verlogen. Verabscheuungswürdig ist aber die Tatsache, dass sie seit langem die zahlreichen Missbrauchsfälle katholischer Geistlicher vertuscht. Auch hier sind dringend Reformen nötig.“
„Dazu ist der jetzige Papst aber ebenso wenig bereit, wie der letzte es war. – Obwohl 1978 nach der Berufung Johannes Pauls II viele Hoffnungen in ihn gesetzt wurden.“
„Dieser reisefreudige Pole war einmal ein Mann, der sich in erster Linie publikumswirksam präsentiert hat“, fügte der Anrufer hinzu. „Wenn er irgendwo in der Welt aus dem Flugzeug gestiegen ist und den Boden geküsst hat – das hatte was. Seine Berufung hat jedoch weder am Zölibat noch an der antiquierten Einstellung der Katholischen Kirche zur Empfängnisverhütung etwas geändert. Im Laufe der Jahre wurde Karol Wojtyla ein alter, an Parkinson erkrankter Mann, der einen mitleiderregenden Anblick geboten hat. Man hätte ihn in den Ruhestand schicken und den Posten nicht wieder besetzen sollen. Einen Vertreter Gottes auf Erden zu ernennen ist nicht nur anmaßend, sondern auch nicht mehr zeitgemäß. Ein modernes Führungs-gremium wäre angebrachter.“
„Für einen Vampir kennst du dich anscheinend in der Welt gut aus“, versuchte Hanna, das Gespräch ausklingen zu lassen. Aber nicht, ohne noch ein wenig über ihn selbst erfahren zu wollen. „Eigentlich erstaunlich für jemanden, der nur nachts aktiv ist. Oder hast du noch einen Nebenjob?“
„Scheut man als Vampir konsequent das Tageslicht, erfüllt man die Voraussetzung für ein Jahrhunderte langes Leben, meine liebe Angel“, antwortete Jakob, ihre Absicht durch-schauend. „In so vielen Jahren sammelt sich eine Menge Wissen an.“ Dies war der Zeitpunkt, die Rollen zu tauschen. „Eine kleine Informationslücke besteht allerdings noch: Woran glaubt eigentlich der Engel der Nacht?“
„An Wunder“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. „An das Wunder des Lebens und an das Wunder der Liebe beispielsweise. An die vielen kleinen Wunder des Alltags, bei denen sich Menschen als Menschen zu erkennen geben. Ich glaube, dass allein die Liebe, die in jedem von uns existiert, enorme Energien freisetzt. Diese geballte Kraft ist für mich das, was man in den verschiedenen Religionen als Gott bezeichnet.“
„Eine interessante Sichtweise, die der meinen sogar ähnelt. Wem gilt denn deine Liebe, Angel?“
„Meinen Zuhörern.“
„Also auch mir?“
„Zwar habe ich kaum Erfahrung mit fledermausartigen Blut-saugern, die nachts durch die Botanik flattern, aber ich will dich deshalb nicht ausschließen.“
„Du bist ein Engel, Angel.“
„Ich weiß“, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. „Deshalb muss ich nun auch andere Hörer zu Worte kommen lassen. – Gute Nacht, Dracula.“
Eine erstaunliche Frau, dachte Jakob und griff nach seinem Weinglas. Sie schien sich gut auf diese Sendung vorbereitet zu haben, da sie sogar die Jahreszahl der Berufung des Papstes wusste. Aber auch sonst imponierte ihm die Moderatorin: ihre Souveränität, ihr Intellekt, ihre Schlagfertigkeit, ihr hintergründiger Humor.
Mit Beginn der 6 – Uhr – Nachrichten endete Hannas Sendezeit. Müde verließ sie das Studio und betrat die Redaktion.
„Bin ich geschafft“, murmelte sie und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Warum tue ich mir das eigentlich jede Nacht an?“
„Weil du die Beste bist“, erwiderte ihr Programmdirektor und trat hinter sie. Ohne zu fragen massierte er ihren Nacken. „Deine Sendung war wie erwartet großartig.“
„Was tust du überhaupt noch hier, Uli?“ fragte Hanna, während sie die Massage mit geschlossenen Augen genoss. „Solltest du nicht längst in deinem Bett liegen?“
„Dann hätten meine Finger jetzt aber nicht mit der zartesten Versuchung Kontakt.“
„Bei mir gibt es nichts zu naschen“, stellte sie amüsiert klar. „Der Engel der Nacht ist für Normalsterbliche ungenießbar.“
„Dann muss ich mit der türkischen Putzfrau anbandeln.“
„Reine Zeitverschwendung“, sagte sie und entzog sich seinen Händen. „Hast du noch was Wichtiges? Sonst verschwinde ich jetzt.“
Sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassend, setzte er sich auf die Tischkante.
„Dieser Anrufer, der sich Dracula nennt, kommt bei den Zuhörern gut rüber. Man müsste herausfinden, wer er ist und ihn zu einem festen Bestandteil der Sendung machen.“ Fragend hob er die Brauen. „Was meinst du dazu, Engelchen?“
„Das nähme seinen Anrufen die Spontanität und das Unbefangene“, überlegte Hanna. „Die Zuhörer würden den Schwindel irgendwann bemerken und mich für unglaubwürdig halten. Das ginge sicher auf Kosten deiner heißgeliebten Einschaltquoten.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, stimmte er ihr zu. „Falls er wieder anruft, solltest du ihn wie bisher etwas länger als die anderen auf Sendung halten. Hast du das bewusst getan?“
„Mehr aus dem Bauch heraus“, gab sie zu. „Dieser Dracula ist wie ich in eine Rolle geschlüpft. Dabei scheint er Gefallen daran gefunden zu haben, mich aus der Reserve locken zu wollen. Das Spielchen fängt an, mir Spaß zu machen. Vielleichtgelingt es mir, den Spieß umzudrehen und ihm zu entlocken, wer er wirklich ist.“
„Wag dich aber nicht zu weit vor“, warnte Ulrich sie. „Womöglich wurde er auf dich angesetzt. Ein Journalist vielleicht oder einer von der Konkurrenz, der herausbekommen soll, wer sich hinter dem Engel der Nacht verbirgt. Jedenfalls scheint er nicht nur über ein umfangreiches Wissen zu verfügen, sondern auch klug und raffiniert zu sein. Wer weiß, was er wirklich im Schilde führt.“
„Ich werde vorsichtig sein“, versprach Hanna und begann, ihr Äußeres wieder als türkische Putzfrau zu tarnen.
Auf dem Heimweg achtete Hanna darauf, dass ihr niemand folgte.
Sie stellte den alten Fiat an einer belebten Straße ab und ging zu Fuß zur nächsten U- Bahnstation. Nach drei Haltestellen stieg sie aus, kaufte beim Bäcker frische Brötchen und verschwand in einem Parkhaus.
In ihrem Wagen zog Hanna das Tuch vom Kopf und die Brille von der Nase. Unter ihrem farbenfrohen Outfit trug sie ein weißes T-Shirt, so dass sie nur noch in Jeans und Turnschuhe schlüpfen musste. Die Tasche mit ihrer Arbeitskleidung landete im Kofferraum.
Zwanzig Minuten später stoppte sie den Golf vor dem Grundstück. Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, sprang Geisha freudig um sie herum. Das kluge Tier wusste genau, wann sein Frauchen nach Hause kam.
„Guten Morgen, meine Süße“, begrüßte Hanna die Hündin, stellte den Brötchenkorb ab und gab ihr die ersehnten Streicheleinheiten. „Jetzt ist es erst einmal genug“, sagte sie schließlich, legte ihr das Halsband um und öffnete die Haustür. Sofort sauste die Hündin an ihr vorbei hinaus. Hanna griff sich rasch noch die
Читать дальше