1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Durch das ins Zimmer fließende helle Sonnenlicht sah Hanna die Vase mit der Baccararose auf dem Nachttisch. „Hast du einen neuen Verehrer?“
„Nö...“
„Einen alten?“
„Auch nicht“, verneinte Marie und schwang die Beine aus dem Bett. „Sonst noch Fragen?“
Mit vielsagendem Lächeln schüttelte ihre Cousine den Kopf.
„Gute Nacht, Marie.“
Jakob Jensen zog es auch an diesem Morgen in den Garten. Die Kinder waren in der Schule und sein Bruder längst aus dem Haus. Nur Pavarotti begleitete seinen Herrn bei einem Rundgang über das Grundstück.
Hin und wieder warf Jakob einen Blick hinauf zur Dachterrasse des Nebenhauses, aber die schöne Nachbarin zeigte sich nicht. Obwohl er sie wiedersehen wollte, konnte er schlecht in seinem Vorgarten stehen und nach oben starren, bis sie erschien. Er musste sich eine Beschäftigung suchen, um nicht den Anschein zu erwecken, auf das engelsgleiche Geschöpf zu warten.
Ein lautes Geknatter riss Hanna unsanft aus dem Schlaf. Verärgert sprang sie aus dem Bett.
„Ich bringe ihn um!“, stieß sie hervor und lief energischen Schrittes auf die Dachterrasse. Ein Blick hinüber genügte, um zu sehen, dass ihr Nachbar die Buchsbaumhecke mit einer elektrischen Heckenschere bearbeitete. Das Ding verbreitete einen Höllenlärm, so dass Hanna sich unwillkürlich fragte, ob der Kerl das absichtlich tat: Seit seinem Einzug störte er ihren Schlaf mit unerträglicher Regelmäßigkeit. Sollte das so weitergehen, würde der Engel der Nacht nur noch übermüdet und flügellahm vor dem Mikrofon sitzen. Sie musste sich diesen Radaubruder so bald wie möglich vorknöpfen.
Diese Gelegenheit ergab sich bereits wenige Stunden später. Wie gewöhnlich verließ Hanna das Haus am frühen Nachmittag mit ihrem Hund. Bei den Mülltonnen sah sie den Mann von nebenan.
„Guten Tag“, sprach Jakob sie an, als sie nicht wie sonst zügig vorbeilief, sondern langsam näher kam. „Schön, dass auch wir uns endlich kennenlernen. Ich habe Sie schon ein paar Mal hier vorbeijoggen sehen, aber Sie waren immer so schnell, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, mich vorzustellen. Ich bin...“
„Ich weiß, wer Sie sind“. fiel Hanna ihm ins Wort. Allein sein Anblick genügte, ihren Ärger auf ihn wieder zu entfachen. „Ihretwegen finde ich kaum noch Schlaf.“
Geschmeichelt lächelte Jakob. Es gelang ihm jedoch nicht, die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille zu durchdringen.
„Dann bin ich Ihnen auch schon aufgefallen?“
„Eingebildet sind Sie wohl gar nicht“, spottete Hanna. „Übersehen könnte man Sie leicht – aber nicht überhören. Seit Ihrem Einzug veranstalten Sie hier draußen jeden Morgen einen höllischen Krach, dass ich nicht schlafen kann.“
„Vielleicht sollten Sie es mal mit früher aufstehen versuchen“, konterte Jakob. „Kein normaler Mensch schläft bis in den Vormittag.“
„Wahrscheinlich bin ich was Besonderes“, gab sie schlagfertig zurück. „Außerdem schlafe ich nicht bis mittags, weil ich zu den Faulenzern zähle, sondern weil ich nachts arbeite. Vielleicht liegt es im Bereich Ihrer Möglichkeiten, künftig ein wenig Rücksicht zu nehmen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte Hanna ihrem an der Straßenecke wartenden Hund.
Bei ihrer Rückkehr saß der Rest der Familie am Kaffeetisch. Marie hatte einen mit Vanillecreme gefüllten Bienenstich gebacken, den die Kinder bereits zur Hälfte vernichtet hatten.
„Bekomme ich auch ein Stück?“ fragte Hanna, und setze sich. „Etwas Süßes täte mir jetzt gut.“
„Hattest du Stress?“ Marie legte ihrer Cousine zuerst ein Stück Gebäck auf den Teller, ehe sie den Kaffee einschenkte. „Oder hat dich jemand geärgert?“
„Der Typ von nebenan geht mir auf die Nerven. Als ich ihm vorhin sagte, dass mich seine morgendlichen Aktivitäten im Garten um den Schlaf bringen, meinte dieser unverschämte Kerl, ich solle es mit früher aufstehen versuchen. Normale Menschen lägen nicht bis mittags im Bett.“
„Wie ich dich kenne, hast du ihm ordentlich Kontra gegeben“, vermutete Marie amüsiert. „Der arme Mann ist zu bedauern.“
„Der arme Mann? Das ist ein eingebildeter Fatzke, der sich für unwiderstehlich hält. Sollte der Rest der Familie Jensen genauso arrogant sein – na dann: gute Nacht, Marie.“
„Einen von denen kenne ich“, sagte Maries älteste Tochter. „Max Jensen ist sein zwei Tagen in meiner Klasse.“
„Und?“, fragte Hanna gespannt. „Ist der auch so ein Ekel wie sein Onkel?“
„Ich glaube, der ist okay. Außerdem ist er total gut in Mathe.“
„Wie sein Bruder“, wusste Sara. „Leon ist in meiner Parallelklasse. Wir sind zusammen in der Mathe - AG.“
„Da muss irgendwo ein Nest sein“, bemerkte Hanna trocken. „Hast du zufällig auch einen neuen Mitschüler, Lisa?“
„Mm“, nickte die Kleine mit vollem Mund. „Timo. – Aber der ist schon in der zweiten Klasse bei Frau Zander.“ Mit der Kuchengabel zeigte sie zum Fenster. „Der wohnt da drüben.“
„Anscheinend sind die plötzlich überall“, stöhnte Hanna, wobei sie die Augen verdrehte. „Womöglich hat sich einer von denen auch schon bei uns im Sender eingeschlichen.“
„Unser sympathischer Nachbar wäre sicher ein brauchbarer Kollege für dich“, neckte Marie ihre Cousine. „Ein bisschen Abwechslung zu deinem hartnäckigen Programmdirektor bekäme dir bestimmt nicht schlecht.“
„Eher würde ich zehn von Ulis Sorte in Kauf nehmen.“
„Hast du deshalb morgen ein Date mit ihm?“
„Ich begleite Uli lediglich zur Geburtstagsparty seines Bruders. Thomas feiert seinen fünfzigsten ganz groß im Hotel am Stadtpark mit ungefähr 80 Gästen. Wie ich gehört habe, sind viele Wegbegleiter geladen. Ich beispielsweise zähle zum Lebensabschnitt: Sandkasten.“
Aus großen Augen schaute Lisa sie an.
„Hast du mit dem früher echt in der Sandkiste gespielt?“
„Wir waren anno irgendwann Nachbarskinder“, bestätigte Hanna. „Thomas ist drei Jahre älter als ich. Es hat ihm einen Heidenspaß bereitet, meine Backförmchen zu vergraben.“
„Hast du dir das gefallen lassen?“
„Was sollte ich tun? Er war größer und stärker als ich.“ Verschwörerisch zwinkerte sie dem Kind zu. „Jungs sollten sich aber nie zu überlegen fühlen. Eines Tages hat Thomas es zu weit getrieben. Als er meinen neuen Ball in einen Baum geschossen hat, habe ich ihm eins mit meiner Schaufel übergezogen. Die Narbe sieht man heute noch.“
„Bislang dachte ich, du könntest keiner Fliege etwas zuleide tun“, sagte Marie scheinbar verwundert. „Ich wusste gar nicht, dass du so gefährlich bist, Hanna.“
„Das bin ich nur, wenn man mich ständig reizt“, erwiderte ihre Cousine mit Unschuldsblick. „Deshalb solltet ihr vorsichtshalber immer besonders lieb zu mir sein.“
Für den letzten Abend seiner Arbeitswoche wählte der Engel der Nacht das Gesprächsthema Hoffnung aus.
Die ersten Anrufer erzählten, was sie sich vom Leben erhofften oder welche ihrer Hoffnungen sich bereits erfüllten. Andere sprachen von ihrer Hoffnung, einen Weg aus der Arbeitslosigkeit zu finden oder eine Krankheit zu besiegen.
In der zweiten Stunde ihrer Sendezeit erreichte Hanna ein Hörer, mit dem sie auch in dieser Nacht gerechnet hatte.
„Nun erfüllt sich auch meine Hoffnung“, sagte sie ins Mikrofon. „Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet, Dracula.“
„Welche Ehre.“ Der leise Spott in Jakobs Stimme überdeckte die Freude über ihre Worte. „Hast du mich so sehr vermisst?“
„Wir wollen es doch nicht übertreiben“, versetzte sie ihm einen Dämpfer. „Mich interessiert einfach nur, was sich ein blutsaugender Vampir erhofft. – Schmackhafte Beute auf seiner nächtlichen Nahrungssuche? Ein bequemes Schlafplätzchen in einer Gruft? Oder vielleicht eine attraktive, gut gebaute Vampirette?“
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