Markus Saxer
DER ENGEL,
DER SEINE FLÜGEL
VERBRANNTE
Kurzgeschichten und Kurzprosa
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild »Dark misery« © igorigorevich (Fotolia)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel Markus Saxer DER ENGEL, DER SEINE FLÜGEL VERBRANNTE Kurzgeschichten und Kurzprosa Engelsdorfer Verlag Leipzig 2017
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Titelbild »Dark misery« © igorigorevich (Fotolia) Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
Zitat Denkst du an Engel, so bewegen sie ihre Flügel Aus Israel
KURZGESCHICHTEN
Ein Himmelswesen auf Erden
Das Sakrileg des Rabbi Löw
Gefährliche Erbschaft
Das menschliche Cello
Die grotesken Schwestern
Die Maske des Entführers
Herbst des Schreckens
Der Sündenfall (Erzählung)
KURZPROSA
23 Christusse
Eine Statue sein
Traktat eines Unbeseelten
Marmorengel
Schindung des Marsyas
Ad Crucem
Die Nacht
Denkst du an Engel, so bewegen sie ihre Flügel
Aus Israel
KURZGESCHICHTEN
Ein Himmelswesen auf Erden
Auf der sanft ansteigenden Treppe der Basilika saß ein weiblicher Engel und rauchte gelangweilt. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt, die von seinem sanft gelockten ebenholzfarbenen Haar bedeckt wurde. Seine im Sonnenlicht gleißenden Flügel lagen ordentlich zusammengefaltet auf den Pflastersteinen zu seinen bloßen Füßen.
Nick war der Engel schon von Weitem aufgefallen. Er setzte sich neben ihn und fragte: »Kann ich auch eine haben? Meine Zigaretten liegen leider im Wagen.«
Hustend wandte sich ihm der Engel zu und reichte ihm seine halb heruntergerauchte Zigarette: »Dumme Angewohnheiten habt ihr Menschen.« Er hatte eine leicht raue, verhexende Stimme.
»Was genau meinst du?«, fragte Nick und nahm einen Zug.
»Na, Rauchen und so. Schmeckt scheußlich.«
»Ah, verstehe. Ein Engel auf den Spuren irdischer Laster.«
»Sozusagen. Eigentlich reise ich ja inkognito, aber offenbar hast du mich durchschaut.« Erneut hustete er.
Mit einer hoch gezogenen Braue musterte Nick die abgelegten Flügel. »Entschuldige, aber deine Tarnung ist ja auch ein Witz. Ich heiße Nick.«
»Philine. Freut mich.« Sie drückte Nicks Hand. »Ich finde, wenn sich ein Engel als Engel verkleidet, ist dies die perfekte Tarnung. Das macht ihr beim Fasching doch auch so. Magst du Engel?«
Nick dachte nach. »Eigentlich schon. Insbesondere jene, die auf den Fresken hin- und herfliegen. Botticelli oder Giotto, ich weiß gar nicht genau … Übrigens ist Philine ein sehr spezieller Name für einen Engel. Woher soll ich wissen, ob du auch einer bist?«
Schweigend sah Philine in die Sonne, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
»Gib mir ein Zeichen«, forderte Nick, betrachtete ihr berückend schönes Gesicht und blies einen Rauchkringel in die Luft.
»Sim dazen nui loch matunika«, murmelte Philine vor sich hin.
»Was heißt das?« Er schnippte die Kippe weg.
Sie wandte ihr Gesicht von der Sonne ab und schaute ihn schweigend an. Plötzlich weiteten sich ihre Pupillen und es wetterleuchtete in ihnen. Ihr Blick hielt eine Weile den seinen fest − und dann küsste sie ihn, und die Flügel, die sie nicht trug, umarmten ihn.
Er schloss die Augen und erschauerte. Philines Kuss schmeckte nach Milch und Honig.
»Sim dazen nui loch matunika«, wiederholte sie. Jetzt verstand er ihre Worte: »Ich selbst bin das Zeichen.«
Er nickte und sagte anerkennend: »Ezra aramantiana matunika − ein wunderschönes Zeichen bist du.« Ein wenig erschreckten ihn diese fremden Wörter aus seinem Munde.
Kurz, ganz kurz nur, lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter und flüsterte: »Nach dem ersten Kuss eines Engels beherrschst du dessen Sprache.«
Nick gab sich skeptisch: »Gibst du mir noch ein Zeichen?«
Seufzend verdrehte sie die Augen: »Ihr Gesicht ist von berückender Schönheit und ihr Kuss schmeckt nach Milch und Honig. Zufrieden?«
»Unglaublich, du kannst meine Gedanken lesen!«
»Wie in einem offenen Buch.«
Ganz gefangen von ihrer Schönheit und der Süße ihrer Zunge umarmte er Philine und küsste nun sie, doch sie entwand sich ihm und stieß ihn weg: »Mein Gott … das hättest du nicht tun dürfen, Nick!« Sie klang schockiert.
»Aber du hast doch mit dem Küssen angefangen!«
Ihr Blick wurde milde: »Ja, und es war auch sehr schön. Aber …«
»Aber?« Er nickte aufmunternd und bewunderte ihr fein gemeißeltes Profil, als sie den Blick zum Himmel hob.
»Nach dem zweiten Kuss verfällt ein Mensch einem Engel rettungslos.«
»Kein schlechter Gedanke.« Nick rieb sich das Kinn.
»Ein furchtbarer Gedanke. Das Schlimmste, was du tun konntest!«
»Weshalb?«
»Weil dieser Mensch an gebrochenem Herzen stirbt, sobald der Engel in den Himmel zurückkehrt.«
»Ach, komm …« Er legte sich die Hand aufs Herz.
»Hört sich irgendwie romantisch an, findest du nicht?«
»Das war kein Witz!«
»Dann bleib bei mir.«
»Nein! Um deinesgleichen zu werden, müsste ich dich ein drittes Mal küssen, aber dann wäre ich nicht mehr unsterblich und mir bliebe die Rückkehr in den Himmel verwehrt.«
Das kaufte Nick Philine zuerst nicht ab, doch als sie ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn durchdringend musterte, fühlte er sich plötzlich unwohl in seiner Haut.
Mit gesenktem Haupt erhob sich Philine und klemmte sich ihre Schwingen unter den Arm. Unter den neugierigen Blicken einer Schar Touristen wandte sie sich zum Gehen: »Leb wohl, Nick!« Ihre Worte blieben in der Luft hängen, als wollten sie gemeißelt werden.
Nick wollte sie noch hundert Dinge fragen, doch das war nicht mehr möglich. Statt dessen hob er grüßend die Hand und blieb nachdenklich und seltsam bestürzt sitzen. Als der Engel verschwunden war, spürte er einen Stich in der Brust, und fasste sich erneut ans Herz. Eine weiße Taube spazierte auf ihn zu und gurrte. Deine Sprache verstehe ich leider nicht, dachte Nick.
Seit der Begegnung mit dem Engel vor einer Woche konnte Nick weder essen noch schlafen. Sein Körper befand sich in einer Art Schockzustand. Er rauchte ununterbrochen und fühlte sich, als zerreiße etwas seinen Körper und seine Seele. Im Spiegel erblickte er ein fremdes, ausgezehrtes Gesicht mit dunklen Augenringen, das um Jahre gealtert schien. Hunger-Halluzinationen suchten ihn heim: Er hatte sich mit Philine im Arm gesehen, wie sie gemeinsam eine Treppe aus Licht emporschwebten, dann jedoch war sie ihm von einer unsichtbaren Macht entrissen worden und vor seinen Augen mit einem gellenden Schrei ins Bodenlose gestürzt. Philine hatte eine Sehnsucht in ihm entfacht, die ihn innerlich verbrannte und Fieberschübe verursachte. Mit zitternden Händen zündete er sich eine Zigarette an und ging aus dem Haus. Er setzte sich hinters Steuer und fuhr zur Basilika, so wie gestern. Und vorgestern … Nie war sie da gewesen …
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