Heute jedoch schien Nick das Glück hold, und wäre er nicht so erschöpft gewesen, wäre er wohl in lauten Jubel ausgebrochen: Anmutig, in eine weiße Tunika gehüllt, stand Philine barfuß vor der Steintreppe und schien auf ihn zu warten. Über ihrem Haupt kreuzten sich weiße Flügelspitzen und darüber zogen dramatische Regenwolken hinweg.
Mit klopfendem Herzen rannte er auf sie zu und wäre dabei fast mit einer alten Frau zusammengestoßen, die beim Taubenfüttern innehielt und den Engel anstarrte. Beim Anblick seiner Angebeteten verschlug es Nick die Sprache und er konnte nur mühsam atmen.
Philine strahlte ihn an: »Hallo Nick. Hast du Feuer?«
Er nickte stumm, klopfte sich die Jackentaschen ab, bis er sein Feuerzeug fand. Als die Turmglocke läutete, gab der Engel ihm einen innigen Kuss, entledigte sich seiner Flügel und steckte sie in Brand.
Das Sakrileg des Rabbi Löw
Nachdem der alte Rabbiner Judah Löw aus feuchtem Lehm den drei Ellen hohen Golem geformt hatte, setzte er sich erschöpft auf einen Stein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Während er sich ein paar Lehmklumpen vom Bart zupfte, wies er seinen Schwiegersohn an, die ungeschlachte Figur mit menschlichen Zügen sieben Mal zu umschreiten und dabei die ihm vorgegebene magische Formel aufzusagen. Alsbald begann die Tonfigur zu glühen, so als brenne in ihrem Inneren ein Feuer. Als Zweiter umkreiste ein Schüler des Rabbis den Golem. Diesem entströmten daraufhin Dämpfe, und Haare und Fingernägel sprossen aus dem Lehm hervor. Nun erhob sich der Rabbi mit einem Ächzen und schritt sieben Mal murmelnd um sein Geschöpf, ohne es aus den Augen zu lassen. Am Ende stellten sich die drei Männer vor der Figur auf und sprachen wie aus einem Munde: »Und Elohim blies ihm den Odem des Lebens ein, und Adam erwachte zum Leben!«
Da schlug die Lehmgestalt die Augen auf und ihr Brustkorb begann sich zu heben. Der Schüler und des Rabbis Schwiegersohn wichen erschrocken zurück. Der Rabbi jedoch, den ein Sturm triumphierender Freude und Jubel durchtoste, trat auf den Golem zu, gab ihm den Namen Joseph und hieß ihn, sich aufzurichten und sich mit dem Gewand eines Synagogendieners zu bekleiden, das die Juden mitgeführt hatten. Danach gingen die Männer von dannen, der Moldau entlang, und fügsam folgte ihnen der Golem mit schwankenden, schweren Schritten.
Eines Nachts erschien dem hohen Rabbi Löw ein Erzengel, herabgestiegen aus der Sphäre des oberen Himmels, des feurigen, der aus Licht ist. Bei Neumond betrat er die Kammer des Alten, der gerade die Kerzen der Menora anzündete, dem aus einem Stück gehämmerten, siebenarmigen Leuchter. Der Engel kam nicht in menschlicher Gestalt, er war geschaffen aus Feuer und Geist und dem Hauch des Unendlichen. In erhabener Schönheit sprach er zu dem Rabbiner: »In den Zeichen, aus denen ihr Menschensöhne die Worte formt, sind die großen Kräfte und die Gewalten beschlossen, welche die Welt in ihrem Gang erhalten. Wisse, alles was auf Erden zu Wörtern geformt wird, hinterlässt seine Spuren in der oberen Welt. Das Zeichen Taph, mit dem der Sabbath scheidet, kennst du wohl aus der Kabbala. In ihm ist das Gleichgewicht der Welt beschlossen, zu dessen Hütern fünf Engel des reinsten Lichts bestimmt sind.«
Diese Worte drangen dem Gelehrten in die Seele wie feiner, glitzernder Staub aus dem heiligen Moder vergangener Jahrtausende. »Ja, dies alles weiß ich, o heiliger Cherub«, antwortete der Rabbi und zitterte vor Angst.
»Du Leichtfertiger, du Staubkorn«, fuhr der Engel zornig fort, »hast dieses Gleichgewicht beschädigt!«
Bei diesen Worten erloschen die Lichter der Menora auf geheimnisvolle Weise und der Strahlenglanz des Himmelsboten erfüllte nun die Kammer.
Wie unter einem Hieb zuckte der Rabbi zusammen und ihm wurde eiskalt.
»Als du aus Lehm den Golem geformt und zum Leben erweckt hast, war dies ein Eingriff in den Plan der Schöpfung.«
»Aber«, krächzte der Rabbi, hielt die Hände in die Höhe und ließ sie sogleich kraftlos wieder fallen, »ich erschuf den Golem doch nur, um den Ablauf der Schöpfung zu erfassen und nachzuvollziehen.«
»Du wolltest dich auf eine Stufe mit Gott stellen!«
Tief betroffen sah der Rabbi seine frevelhafte Tat ein und war ratlos: »Was soll ich jetzt tun?« Hinter den Brillengläsern glitzerten Tränen, als er sich mit der Rechten schwer auf den Talmud abstützte, der vor ihm auf dem Tisch lag.
»Dein Geschöpf töten. Ist dies bis zum nächsten Sabbath nicht geschehen, wird der Allerhöchste den Cherub mit dem Flammenschwert von seiner Wache über den Baum des Lebens abberufen. Tut er dies, wird in der Folge die Erde von Feuer verzehrt und alles Leben vernichtet werden.«
»Ich habe die Kontrolle über den Golem verloren, er ist auf und davon«, gab der Alte kleinlaut zu und wischte sich fahrig übers Gesicht. »Im Prager Ghetto soll er angeblich sein Unwesen treiben. Wie ein Berserker wütet er dort und erschlägt jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Daher erscheint es mir kaum möglich, ihn bis zum Sabbath dort aufzuspüren und zu töten. Ich bin nur ein alter Mann.«
Der Feuerblick des Erzengels brannte dem Rabbiner im Gesicht und in der Seele, als er sagte: »Wenn du deines Geschöpfs nicht habhaft werden kannst um es zu töten und so das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen, muss ich die Sache für dich in Ordnung bringen.« Wie ein wandelndes Licht trat das himmlische Wesen auf den Rabbiner zu und schrieb ihm mit dem Finger das Wort METH, das Siegel des Todes, auf die Stirn, während er monoton eine Formel sprach.
Ein entsetzlicher Schrei wich von den Lippen des Alten, sein Blick erlosch und sein Antlitz erstarrte: Der Rabbi wurde selbst zu einer leblosen Statue, einem Lehmbild. Die äußere Schicht seines Gesichts bröckelte ab und ein Ton von fahlem Gelb kam zum Vorschein, der sich langsam in Staub auflöste.
Da war das Gleichgewicht der Welt wiederhergestellt, und der Erzengel verließ die Kammer und schwang sich in die Sphäre des oberen Himmels empor, des feurigen, der aus Licht ist.
Deborah Lehmanns Schritte mäanderten über die Marmorfliesen des riesigen Wohnzimmers, über welche die Sonne ihre Strahlen breitete. Sie frohlockte innerlich, als ihr erneut klar wurde, dass diese Villa bald ihr gehören würde, konnte ihr Glück kaum fassen. Ihr verstorbener Onkel Thaddäus − Abkömmling eines alten europäischen Geldadels − hatte ihr die Liegenschaft mit einer absonderlichen im Testament verfügten Auflage vererbt: Deborah durfte den Prunkbau mit der Säulenveranda in den ersten beiden Tagen unter gar keinen Umständen verlassen, egal was geschehen würde. Erst danach würde die Villa in ihr Eigentum übergehen. Was war vom letzten Willen des exzentrischen Onkels zu halten? Dies ging Deborah immer wieder durch den Kopf, doch sie kam nicht dahinter und fand keine plausible Erklärung dafür. Ihr Onkel hatte allein in völliger Abgeschiedenheit gelebt und sein Leben, wie man hörte, geheimen Forschungsprojekten und alchemistischen Experimenten geweiht. Mit seiner Affinität zum Okkulten galt er allgemein als Phantast und Sonderling, dem stets etwas Diabolisches anhaftete: Die Diabolik eines gleichsam verschrobenen, aber nicht bösartigen Prince of Darkness mit Gothic-Habitus.
Deborah hatte ihn nur selten gesehen und stand ihm nie besonders nahe − desto erstaunlicher, dass er sie nun mit diesem fürstlichen Erbe bedachte.
»Wir haben Ihnen den Kühlschrank gefüllt, Frau Lehmann«, verkündete die Nachlassverwalterin Helene Thalbach, eine stattliche, vorzeitig ergraute Dame. »Sie brauchen in den nächsten Tagen bestimmt nicht zu hungern.«
»Sehr aufmerksam. Danke, Frau Thalbach.« Deborahs Blicke schweiften über die mit weißen Laken bedeckten Möbel, die nicht aussahen wie Sofas, Schränke oder Tische, sondern eher wie ungestalte Tote unter Leichentüchern. Lebendig wirkte einzig der imposante Kronleuchter mit seinen funkelnden Prismen.
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