„Du hast nach dem Frühstück gesagt, wir sollen uns leise beschäftigen, weil Hanna ihren Schlaf braucht“, erinnerte Anna ihre Mutter. „Deshalb haben wir uns in den Garten verzogen.“
„Ward ihr die ganze Zeit hier?“
„Soll das ein Verhör werden?“ antwortete Sara mit einer Gegenfrage, wobei sie den Nachbarn misstrauisch taxierte. „Egal, wofür ihr einen Sündenbock sucht, wir waren es nicht. Fragt doch mal nebenan. Da sind drei Jungens eingezogen. Wahrscheinlich haben die verbockt, was ihr uns anhängen wollt.“
„Niemand will euch was anhängen“, schaltete sich nun Jakob ein. Die Mädchen schienen tatsächlich nichts mit dem Schuss zu tun zu haben. Er hätte sie nicht vorschnell verdächtigen dürfen. „Die Jungen von nebenan sind meine Neffen. Habt ihr Lust mit uns Basketball zu spielen? Oder traut ihr euch nicht?“
„Sie halten uns wohl für feige?“, fragte Sara herausfordernd. Nacheinander blickte sie ihre Schwestern an. „Lassen wir das auf uns sitzen? Kommt, denen zeigen wir es!“
Hanna war gerade wieder eingeschlafen, als das Lärmen abermals einsetzte. Diesmal jedoch trotz geschlossenem Fenster unüberhörbar lauter. Mit einem Seufzer schlug sie die Decke zurück und schaute aus dem Seitenfenster. Was sie sah, entlockte ihr einen weiteren Seufzer: Die Mädchen waren zum Feind übergelaufen! Fröhlich spielten sie mit den Nachbarn Basketball...
Gegen Mittag betrat Jakob noch einmal das Souterrain des Nebenhauses. In der Küche waren die Vorbereitungen mittlerweile fortgeschritten. Auf dem Tisch standen nun verschiedene garnierte Platten und Salatschüsseln. Marie war gerade dabei, die Speisen mit Folie abzudecken und bis zur Auslieferung ins Kühlhaus zu stellen.
„Ich habe Ihre Töchter unversehrt zurückgebracht“, teilte Jakob ihr mit. „Wir hatten viel Spaß zusammen.“
„Wer hat gewonnen?“
„Die Mädchen. Sie mussten meinen Neffen versprechen, demnächst auf eine Revanche herüberzukommen.“
„Das tun sie sicher gern“, vermutete Marie. „Sorry“, bat sie, da plötzlich die Melodie ihres Handys erklang, und nahm das kleine Gerät von der Fensterbank. „Hallo!?“
„Hallo, mein Schatz“, vernahm sie die Stimme ihrer heimlichen Liebe. „Was treibst du denn gerade?“
„Ich bin mit einem Buffet für vierzig Personen beschäftigt.“
„Denkst du dabei an mich?“
„Ununterbrochen“, neckte sie ihn. „Beim Fleisch klopfen, beim Zwiebeln hacken, beim Sahne schlagen...“
„Habe ich mir mit dir etwa eine kleine Sadistin eingehandelt?“
„Das musst du schon selbst herausfinden.“
„Das täte ich am liebsten gleich heute Abend“, bekannte er. „Leider wird daraus nichts. Obwohl ich mich nach dir sehne, muss ich mich um meine Familie kümmern.“
„Mir ergeht es genauso. Da Hanna zu einer Party eingeladen ist, kann ich auch später nicht mehr weg.“
„Dann bleibt uns wieder einmal nur das Telefon. Ich rufe dich wieder an, wenn alle schlafen.“
„Okay“, stimmte Marie zu. „Nun muss ich Schluss machen. Mein Nachbar ist gerade da.“
„Dein Nachbar?“, wiederholte er verwundert. „Was will er denn? Ist er am Ende sogar nett?“
„Das erzähle ich dir vielleicht in einer schwachen Stunde.“
„Hexe!“, lachte er. „Bis später. – Und fang nichts mit dem Nachbarn an.“
„Wo werd ich denn?“ Lächelnd unterbrach Marie die Verbindung und legte das kleine Telefon in die Fensterbank zurück.
„Kann ich noch was für Sie tun, Herr Jensen?“
„Eine kleine Bitte hätte ich“, gestand er. „Ihre Jüngste hat vorhin gesagt, heute Mittag gäbe es ihr Lieblingsessen: Pfannkuchen. Daraufhin haben mich meine Neffen gebeten, das gleiche auf den Tisch zu bringen.“ Verlegen zuckte er die Schultern. „Damit bin ich offen gestanden etwas überfordert. Mein Teig wird stets entweder zu flüssig oder zu fest, so dass beim Backen immer ziemlich merkwürdige Gebilde entstehen. Vom Geschmack ganz zu schweigen. Irgendwas mache ich wohl falsch. Verraten Sie mir die richtige Mischung?“
„Wie viele Personen sind Sie?“
„Fünf.“
„Fünf Männer mit wahrscheinlich gutem Appetit.“ Sie nahm ein Paket Mehl aus dem Vorratsschrank. Aus dem Kühlhaus holte sie Eier und Milch. Dazu legte sie noch zwei Päckchen Vanillezucker und gab die Zutaten in die große Küchenmaschine. Innerhalb weniger Minuten war der geschmeidige Teig fertig. Marie ließ ihn in eine große Tupperschale fließen, drückte erst den Deckel darauf und dann die Schüssel dem Nachbarn in die Hände.
„Guten Appetit.“
„Danke, Frau Mertens. Sie sind ein Engel.“
„Davon bin ich weit entfernt“, winkte sie ab und begleitete ihn hinaus.
Am späten Nachmittag wollte Jakob der sympathischen Nachbarin die Schüssel zurückbringen. Der Eingang zum Souterrain war jedoch verschlossen. Deshalb ging Jakob um das Haus herum und läutete an der Vordertür.
Da die Kinder mit dem Hund draußen waren, lief Hanna mit wehendem Morgenmantel die Treppe hinunter, um zu öffnen.
„Sie schon wieder?“, entschlüpfte es ihr beim Anblick des Nachbarn. „Was gibt es?“
„Eigentlich wollte ich zu Ihrer Cousine“, erwiderte Jakob, wobei er sie interessiert musterte. Ihr langes Haar war feucht; die rechte Schulter schaute unter einem locker geschlossenen Morgenmantel hervor, der auch die gebräunten Beine nur mangelhaft bedeckte. Jakobs Augen blieben an den bloßen Füßen haften. Zwischen den zierlichen Zehen steckten kleine Schaumstoffröllchen. Amüsiert deutete er darauf.
„Was soll denn das werden?“
„Offenbar war ich gerade dabei, meine Nägel zu lackieren“, entgegnete sie kühl. „Sonst noch Fragen?“
„Haben Sie das nötig?“
„Das dürfte Sie kaum etwas angehen.“
„Natürlich nicht“, gab er ihr widerstrebend recht. „Meinetwegen können Sie sich von oben bis unten anmalen.“
„Sehr großzügig“, spottete Hanna. „Meine Cousine ist nicht zu Hause. Sie liefert das bestellte Essen aus.“
„Ich wollte auch nur die Schüssel zurückbringen. Richten Sie Ihrer Cousine bitte aus, dass meine Familie begeistert war.“
„Wie schön für Sie.“ Noch immer machte er keine Anstalten, zu gehen. „Wollen Sie die Schale nun hier lassen – oder nicht? Ich habe heute noch mehr zu tun.“
„Richtig, Sie müssen ja noch Ihre Nägel lackieren“, spottete nun er, übergab ihr aber die Schüssel. „Überanstrengen Sie sich nur nicht dabei.“
Verärgert über seinen Ton, warf Hanna ihm die Tür vor der Nase zu.
„Ungehobelter Klotz!“, brummte sie und brachte die Schale in die Küche.
Unterdessen kehrte Jakob nach Hause zurück. Im Wohnzimmer traf er auf seinen Bruder, der über der Tageszeitung saß.
„Diese Frau ist wie eine Königskobra“, sagte Jakob mehr zu sich selbst. „Gefährlich und giftig.“
„Ich denke, du magst sie“, erwiderte Jonas verwundert. „Vorhin hast du noch in den höchsten Tönen von ihr gesprochen.“
„Von Frau Mertens. Eben war aber nur ihre Cousine zu Hause. Die beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.“
„Nachdem du Frau Mertens als sehr hübsch, attraktiv und sympathisch beschrieben hast, ist ihre Cousine offenbar genau das Gegenteil: hässlich, abstoßend und unausstehlich.“
„Ganz so schlimm ist sie nun auch wieder nicht“, räumte Jakob ein. „Im Grunde ist sie sogar sehr attraktiv.“
„...aber?“
„Anscheinend kann sie mich nicht leiden.“
„Daher weht der Wind“, lachte Jonas. „Nur weil die Dame sich von deinem Charme wenig beeindruckt zeigt, bist du nicht gut auf sie zu sprechen. Womöglich lässt deine Wirkung auf das weibliche Geschlecht einfach nur nach!? Immerhin bist du auch nicht mehr der Jüngste.“
„Sehr witzig“, brummte Jakob und ließ sich in einen Sessel fallen. „Noch bin ich nicht fünfzig.“
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