„Manche Dinge, die oberflächlich betrachtet alt und gebrechlich wirken, sind innerlich jung und dynamisch.“
„Sprechen Sie von sich oder von Ihrem Vehikel?“
„Testen Sie mich und mein Auto“, schlug Jakob vor. „Dann finden Sie vielleicht heraus, wie viel Power in uns steckt.“
„So abenteuerlustig bin ich nicht“, lehnte sie sein Angebot ab. „Außerdem ist die Nacht noch viel zu jung, um schon jetzt Richtung Heimat aufzubrechen.“
„Wenn man es gewohnt ist, bis mittags im Bett zu liegen, kann man sich wohl getrost die Nacht um die Ohren schlagen. Vergessen Sie dabei aber nicht, dass Sie neuerdings einen geräuschintensiven Nachbarn haben. Womöglich stört der rücksichtslose Mensch Ihren Schönheitsschlaf sogar am heiligen Sonntag.“
„Dann erschieße ich ihn mit kaltem Reis“, konterte sie mit zuckersüßem Lächeln. „Oder mit bunten Papierkugeln.“ Jakobs Verblüffung ausnutzend, hängte sie sich bei Ulrich ein. „Komm, lass uns tanzen.“
Zu Hause zog Jakob sich gleich in seine Räume zurück. Mitternacht war längst vorüber, und er war rechtschaffen müde. Nach dem Duschen machte er es sich mit einem Buch in seinem Bett bequem und schaltete das Radio ein. Leise einschmeichelnde Musik erklang, die bald von Angels sanfter Stimme abgelöst wurde. Sie sprach mit einem Anrufer über Heimweh. Eine Weile lauschte Jakob diesem Gespräch. Als erneut Musik einsetzte, griff er nach dem schnurlosen Telefon und wählte die Nummer des Senders. Diesmal gelang es ihm nicht, den Engel der Nacht zu erreichen. So oft er es auch versuchte, es ertönte ständig das Besetztzeichen. Er ahnte nicht, dass Radio 2000 in den Wochenendnächten in der Reihe Von spät bis früh Highlights aus Sendungen des letzten Monats brachte. Wäre Jakob nicht eingeschlafen, hätte er sogar seine eigene Stimme aus dem Radio gehört.
Am kommenden Morgen war Marie schon zeitig mit Geisha unterwegs. Auf dem Heimweg begegneten sie Jakob und Pavarotti.
„Guten Morgen, Frau Mertens“, begrüßte Jakob sie, während sich die Hunde neugierig beschnüffelten. „So früh schon auf den Beinen?“
„Bei meiner Cousine wurde es in der letzten Nacht sehr spät, deshalb habe ich sie schlafen lassen.“
„Auch ich war gestern auf dieser Party. Ihre Cousine war mächtig in Fahrt. Ist sie immer so temperamentvoll?“
„Aber hallo. Wehe, wenn sie losgelassen.“
„Haben Sie Ihrer Cousine eigentlich von dem gestrigen Attentat auf mich berichtet?“
„Ja – wieso?“
„Weil sie mir gedroht hat, mich mit bunten Papierkugeln zu erschießen, falls ich es heute wieder wagen sollte, ihren Schönheitsschlaf zu boykottieren.“
„An Ihrer Stelle würde ich diese Warnung ernst nehmen“, riet Marie ihm vergnügt. „Hanna steht immer zu ihrem Wort.“
„Das habe ich befürchtet“, seufzte Jakob. „Darf ich Sie und Ihre Familie heute Nachmittag zum Kaffee einladen, Frau Mertens? Bei dieser Gelegenheit könnten Sie auch endlich meinen Bruder kennenlernen.“
„Ist der denn so toll, dass ich unbedingt seine Bekanntschaft machen müsste?“
„Die Damenwelt ist jedenfalls überzeugt davon. Wahrscheinlich kann er sich deshalb nicht für eine entscheiden. Dabei bräuchten die Jungens dringend wieder eine Mutter.“
Skeptisch blickte Marie zu ihm auf.
„Sie spielen doch nicht etwa mit dem Gedanken ...“
„Keine Sorge“, unterbrach Jakob sie kopfschüttelnd. „Sie entsprechen leider überhaupt nicht seinem bevorzugten Typ. Jonas steht mehr auf diese aufgebrezelte, perfekt gestylte Spezies. Jemand so erfrischend natürlich Weibliches passt nicht in sein Beuteschema.“
„Dann kann ich Ihre Einladung wohl beruhigt annehmen“, schloss Marie aus seinen Worten. „Darf ich den Kuchen beisteuern? Ich backe heute ohnehin noch.“
Hanna schlief wie ein Baby. Kein lautes Geräusch riss sie aus ihren Träumen. Erst gegen Mittag drangen Töne in ihr Bewusstsein. – Brahms, dachte sie benommen und schlug die Augen auf. Wohlig streckte sie sich unter der Decke. Durch die geöffnete Terrassentür wehte leise das Wiegenlied zu ihr herein. Um zu erkunden, wer um diese Stunde ein Schlaflied auf dem Klavier spielte, stand Hanna auf und ging auf den Dachgarten hinaus. Ein Blick zum Nebenhaus genügte wieder einmal. Ihr Lieblingsnachbar saß im Erdgeschoss vor dem weit geöffneten Fenster am Flügel.
Als er Hanna auf der Dachterrasse entdeckte, nickte er freundlich zu ihr hinauf, wobei er zu einer anderen Melodie wechselte: You are my sunshine...
„Jetzt ist er völlig abgedreht...“, murmelte Hanna und tippte sich an die Stirn. Daraufhin erklang von gegenüber der Schlager: Ein bisschen Spaß muss sein...
Spinner, dachte Hanna und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück.
Im Jogginganzug kam sie später herunter. Ihre Cousine saß mit ihrer jüngsten Tochter beim Memoryspiel auf der Terrasse. Zu ihren Füßen lag Geisha dösend in der Sonne. Der Hund war jedoch sofort hellwach, als Hanna ins Freie trat. Erwartungs- voll hob das Tier den Kopf.
„Na, ihr drei Süßen“, sagte Hanna lächelnd. „Wer gewinnt?“
„Wer wohl?“, antwortete Marie. „Mit Lisas phänomenalem Gedächtnis kann ich nicht mithalten.“
„Du hast zu viele andere Dinge im Kopf“, vermutete Hanna. „Lass doch mal die Seele baumeln.“ Behutsam legte sie die Hand auf die Schulter des Kindes. „Hast du Lust, mich und Geisha zu begleiten, Lisa? Du könntest deinen Roller nehmen und mit uns eine Runde drehen. Bestimmt kommen wir dabei an einer Eisdiele vorbei. Inzwischen kann deine Mama ein Weilchen entspannen.“
Ohne zu zögern sprang das Mädchen auf.
„Ich hole mein Kickboard!“
„Beeil dich“, rief Hanna ihr nach. „Und du, stell dich nicht gleich wieder in deine Küche, Marie. Schließ die Augen, und lass dich einfach nur von der Sonne bescheinen.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderte Marie dankbar, wobei sie sich an eine imaginäre Mütze tippte. „Aber nur, wenn du heute Nachmittag mit uns kommst.“
„Wohin soll es denn gehen?“
„Unsere neuen Nachbarn haben uns zum Kaffee eingeladen.“
Skeptisch hob Hanna die Brauen.
„Wozu soll das gut sein?“
„Damit sich alle Familienmitglieder gegenseitig kennen lernen. Auch den anderen Jensen-Bruder.“
„Muss das sein?“ fragte ihre Cousine wenig begeistert. „Die Bekanntschaft mit einem Jensen genügt mir vollkommen. Außerdem muss ich mich um meine Fanpost kümmern. Es genügt doch, wenn du mit den Mädchen zum Kaffeeklatsch gehst.“
„Kommt nicht in Frage“, bestimmte Marie. „Die Einladung galt ausdrücklich auch für dich. Ich habe bereits für uns alle zugesagt. Ein Stündchen kannst du gewiss erübrigen. Dann kommst du auch in den Genuss eines mit Vanillecreme gefüllten Streuselkuchens.“
„Das nennt man Bestechung“, seufzte Hanna. „Beim Joggen denke ich darüber nach, ob ich diesen Lärmbelästiger schon wieder ertragen kann.“
Am Nachmittag verließen die Cousinen mit den drei Mädchen und dem Familienhund das Haus. Hanna trug die Platte mit dem gefüllten Streuselkuchen; Marie hielt einen großen Teller mit Käsekuchen in den Händen. Die Erdbeertorte wurde von Anna transportiert; die Schüssel mit der Schlagsahne durfte Lisa tragen.
„Müssen wir da wirklich mit?“, fragte Sara zum wiederholten Mal lustlos. „Kaffeeklatsch ist tierisch langweilig. Außerdem sind Jungs doof.“
„Nun hör endlich auf zu maulen, Sara“, wies Marie ihre Tochter zurecht. „Man sollte sich immer um ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn bemühen. Beim Basketball habt ihr euch doch auch verstanden.“
„Das war nur eine sportliche Herausforderung. – Mehr nicht.“
„Warte es doch erst mal ab“, schlug Hanna vor. „Sogar ich komme mit – obwohl ich mit einem Mitglied dieser Familie auf Kriegsfuß stehe. Wir bringen das jetzt hinter uns – okay?“
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