„Letzteres streite ich besser nicht ab“, erwiderte Hanna vergnügt. „Mit deiner restlichen Analyse liegst du allerdings ziemlich daneben.“
Scheinbar entsetzt rollte er hinter seiner Maske mit den Augen.
„Bedeutet das etwa, du bist schon zwischen siebzig und achtzig? Eine Rentnerin mit Gummistrümpfen und Stützkorsett?“
„Jetzt kommen wir der Sache schon näher“, lachte sie. „So viel Gummi wie heute hatte ich noch nie am Körper.“
„Mir gefällt dieses hautenge Outfit“, gab er offen zu. „Läufst du im wirklichen Leben auch so sexy gekleidet herum?“
„Ist das hier nicht das wirkliche Leben?“, tat sie überrascht. „Verstecken sich die meisten Menschen nicht hinter einer Maske, aus Furcht, zu viel von sich selbst preiszugeben?“
„Offenbar schlummert in dir doch eine Madame Freud. – Oder sprichst du von dir? Brauchst du eine perfekte Tarnung? Die einer gefährlichen Schlange: unnahbar, kraftvoll, giftig und unberechenbar? Verbirgst du dahinter ein sensibles, verletzbares Wesen?“
„Schon wieder falsch gedeutet“, entgegnete Hanna ernst. „Es gibt keinen Grund, mich hinter einer Maske zu verschanzen. Ich bin stark, wo ich stark sein muss, versuche aber dennoch sensibel auf meine Mitmenschen einzugehen. Verletzbarkeit betrachte ich übrigens nicht als Schwäche. Wer unverletzbar ist, ist entweder aus Stein oder tot.“ Ihre kühlen, behandschuhten Finger strichen sacht über seine Brust. „Wie sieht es denn hier drinnen aus? Kannst du nur hinter einer Maske ganz du selbst sein?“
„Das würde nicht funktionieren“, war er überzeugt. „Wenn man tagtäglich mit vielen Menschen zu tun hat, muss man aufrichtig sein und zu dem stehen, was man verkörpert. Jedes Heucheln oder Verstellen würde rasch bemerkt und mich völlig unglaubwürdig erscheinen lassen. Deshalb zeige ich meine Ecken und Kanten, anstatt sie vor meiner Umwelt zu verbergen. Kein Mensch hat nur Schokoladenseiten.“
„Heute scheinst du aber viele davon zu haben“, scherzte sie, um das Gespräch wieder in heitere Bahnen zu lenken. „Deine Haut sieht richtig lecker aus. Ist die Bräune echt?“
Er war feinfühlig genug, um ihre Absicht zu durchschauen.
„Teneriffa aus der Tube“, gab er freimütig zu. „Trinkst du ein Glas mit mir, obwohl ich eigentlich ein Bleichgesicht bin?“
„Nur ein Glas? Momentan bin ich in der Stimmung für eine richtige Champagnerorgie.“
„Erst der Champagner“, bestimmte er scheinbar streng. „Über die Orgie verhandeln wir später.“
Es war schon dunkel, als Marie mit Geisha von einem langen Abendspaziergang heimkehrte. Die müde Hündin lief zuerst in die Küche zu ihrem Wassernapf, bevor sie sich in ihrem Korb in der Diele zusammenrollte.
Marie setzte sich an den Küchentisch und blätterte in einem Buch über kreatives Kochen...
Die Sichel des Mondes verschwand hinter einer Wolke. Auf leisen Sohlen schlich ein Mann am Gartenzaun entlang. Plötzlich flankte er über das Hindernis, um nicht in den Schein der Straßenlaterne zu geraten. Seine schwarz gekleidete Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit. Ungesehen bewegte er sich über das fremde Grundstück auf das Haus zu, fand die Tür zum Souterrain und drückte die Klinke herunter. Als sie nachgab, schlüpfte er hinein...
Mit einem unwilligen Knurren sprang Geisha auf. Laut bellend blieb sie mitten im Flur stehen, den Blick auf die Treppe zum Souterrain gerichtet. Das Fell in ihrem Nacken stand hoch wie eine Bürste.
„Sei still, Geisha!“, befahl Marie, die aus der Küche kam. Beruhigend klopfte sie dem Tier die Seite. „Bist ein braver Hund“, lobte sie die Wachsamkeit des Boxers. „Da ist nichts. – Geh wieder in deinen Korb.“
Die Hündin rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen ließ sie ein leises Knurren hören.
„Wenn du mich unbedingt beschützen willst, dann komm mit.“
Sie wusste, Geisha würde nicht eher Ruhe geben, bis sie sich davon überzeugt hätte, dass keine Gefahr bestünde. Während Marie noch das Licht einschaltete, stürmte Geisha schon bellend die Stufen hinunter. Marie folgte ihr, war aber erst auf halber Treppe, als der Hund plötzlich verstummte.
Dennoch setzte Marie ihren Weg unerschrocken fort. In der Tür zur großen Küche blieb sie stehen – und lächelte. Geisha stand Schwanz wedelnd vor dem Eindringling und ließ sich von ihm kraulen.
„Geisha scheint ein ausgezeichneter Wachhund zu sein“, sagte er und wandte sich um. „Würde sie mich nicht kennen, müsstest du mich jetzt vermutlich verarzten.“ Zärtlich küsste er Marie auf die Lippen. „Eigentlich könntest du das trotzdem tun. Meine Wunden sind äußerlich zwar nicht sichtbar, aber ich bin schon ganz krank aus Sehnsucht nach dir.“
„Dagegen weiß ich ein wirksames Mittel“, erwiderte sie verheißungsvoll. „Allerdings müsstest du zur Behandlung mit in mein Schlafzimmer kommen.“
„Dir folge ich bis ans Ende der Welt.“
„Da möchte ich gar nicht hin“, ließ sie ihn mit schelmischem Lächeln wissen. „Wie viel Zeit haben wir denn für deine Therapie?“
„Die Kinder schlafen tief und fest – und mein Haushaltsvorstand kommt von einer solchen Veranstaltung erfahrungsgemäß nicht vor zwei Uhr nachts nach Hause.“
„Für meine Mitbewohnerin gilt sicher das gleiche.“ Rasch warf sie einen Blick auf die große Wanduhr. „Uns bleiben fast drei Stunden. So viel Zeit hatten wir lange nicht für uns.“
„Deshalb werden wir sie sinnvoll nutzen“, versprach er und griff nach ihrer Hand. „Führen Sie mich bitte in Ihren Behandlungsraum, Frau Doktor.“
„Mit dem größten Vergnügen, Herr Patient.“
Für Hanna verlief der Kostümball anders als im Jahr zuvor. Außer der üblichen oberflächlichen Konversation hatte sie er- wartet, ein bisschen zu tanzen, ein wenig zu flirten, um den Alltag für eine Weile zu vergessen. Mit einem Schlangenbeschwörer, der den ganzen Abend nicht von ihrer Seite weichen würde, hatte sie nicht gerechnet. Abú erwies sich als ausgezeichneter Tänzer, verstand es, amüsant zu plaudern, war aufmerksam und besaß gute Manieren. Sein Humor war dem ihren sehr ähnlich: schlagfertig, manchmal hintergründig, aber niemals aufdringlich oder anzüglich. Ein Mann zum Verlieben... Leise lachte Hanna über sich selbst. Sie kannte weder sein Gesicht noch strebte sie eine engere Beziehung an. Seit dem Tod ihres Mannes war sie gezwungen, sich ihr Leben ohne seine Liebe einzurichten. Im Laufe der Zeit hatte sie ihre Unabhängigkeit sogar zu schätzen gelernt. So mancher attraktive Mann hatte seitdem ihren Weg gekreuzt und sie umworben. Keiner von ihnen hatte jedoch den Wunsch in ihr geweckt, ihr restliches Leben mit ihm zu teilen. Selbst wenn er sich noch so gut anfühlte, dachte Hanna und löste sich etwas von ihrem Tanzpartner, um ihm in die Augen schauen zu können. Ihre Blicke versanken ineinander. Behutsam zog Abú sie wieder enger an sich.
„Es ist, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Du fügst dich so perfekt in meine Arme, als hättest du nie woanders hingehört.“
„Weil ich mich bei dir wohlfühle“, gab sie offen zurück. „Sehr wohl sogar.“
Er schaute sie an, als wolle er sagen: Verschwinden wir von hier.
„Eine gute Idee“, antwortete sie und nahm seinen Arm. „Hier ist es so warm. Lass uns eine Weile nach draußen gehen.“
Durch das Gedränge geleitete er Hanna zu den weit geöffneten Flügeltüren, die ins Freie führten. Tief atmete Hanna die klare Nachtluft ein. Schweigend schlenderten sie nebeneinander durch den dunklen Park. Hinter einer hohen Baumgruppe lag ein kleiner Pavillon. Aus einem Mauerspalt neben der Tür fischte Abú den Schlüssel und sperrte auf.
Drinnen war es stockfinster; man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.
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