„Du bist erstaunlich gut informiert“, gestand die Moderatorin ihm zu. Da sie selbst einige Semester Psychologie studiert hatte, wusste sie, dass seine Ausführungen zutrafen. „Wieso kennst du dich damit aus, Dracula?“
„Ich bin eben ein vielseitig interessierter Vampir“, behauptete Jakob. „Wenn ich nicht schlafen kann, liege ich mit einer Taschenlampe lesend in meinem Sarg. Im Laufe der Jahrhunderte studierte ich auf diese Weise ganze Bibliotheken.“
„Tatsächlich?“ erwiderte sie mit spöttischem Unterton. „Gibt es denn auch jemanden, dem du bedingungslos vertraust?“
„Sicher“, gab er zu, ohne näher darauf einzugehen. „Ein Vertrauensverhältnis muss sich aber immer erst entwickeln. So etwas passiert nicht von heute auf morgen. Man lernt sich kennen, empfindet Sympathie füreinander und freundet sich im Laufe der Zeit an. Allmählich beginnt man, einander zu vertrauen.“
„Du hast mir aber immer noch nicht verraten, wem du vertraust, Dracula. Oder lebst du nach der Lenin-Devise: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser?“
„Mittlerweile solltest du mich besser kennen“, tadelte er sie. „Für mich ist Vertrauen das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde.“
„Du erstaunst mich immer wieder“, gestand Angel. „Für so tiefgründig hätte ich dich gar nicht gehalten.“
„Vampire werden oft unterschätzt“, monierte Jakob. „Wir sind nicht nur primitive Blutsauger. Die meisten von uns sind sensible Wesen. Deshalb interessiert es mich, wem du vertraust?“ „Meiner Familie“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Außerdem einigen engen Freunden.“
„Du hast eine Familie?“, hakte er sofort nach. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“
„Alle Engel sind eine große Familie“, schränkte sie ihre spontane Antwort ein. „Dazu zählen die Schutzengel, die Weihnachtsengel...“
„... und die Gelben Engel“, fügte Jakob trocken hinzu. „Fürchtest du dich davor, uns zu erzählen, wem du im wirklichen Leben vertraust?“
„Mein lieber Dracula, das klingt wie Kritik aus dem Glashaus.“
„Kannst du das noch mal wiederholen?“, bat er mit Begeisterung in der Stimme. „Aber nur die ersten drei Worte.“
„Mein lieber Dracula...“, hauchte der Engel der Nacht ins Mikrofon. „Ich wünsche dir noch eine wundervolle, ereignisreiche Nacht. – Bis zum nächsten Mal...“ Mit dem Daumen nach unten gab die Moderatorin der Regie ein Zeichen, worauf der Anrufer aus – und die Musik eingeblendet wurde.
Am Samstagmorgen wurde Hanna bereits von der gesamten Familie erwartet. Nicht zuletzt deshalb, weil sie frische Brötchen mitbrachte.
„Ihr seid aber früh auf den Beinen“, wunderte sie sich, da auch die Kinder schon am Frühstückstisch saßen. „Hat unser reizender Nachbar heute etwa zu nachtschlafender Zeit Bäume gefällt, oder steht euch ein Verwöhnwochenende bevor?“
„Wir haben ein Date mit dem coolsten Typen der Stadt“, erklärte Anna. „Der hat immer Super-Ideen.“
„Die sollte er als Architekt auch haben“, bemerkte sie trocken und leerte den Inhalt der Tüte in den Brötchenkorb. „Ich gehe jetzt mit Geisha die Morgenrunde. Vielleicht habe ich Glück und kann bei meiner Rückkehr noch einen Blick auf diesen ach, so coolen Typen erhaschen.“
„Oliver wird kaum abfahren, ohne dich zu begrüßen“, meinte Marie. „Immerhin ist er einer deiner größten Bewunderer.“
„Das behaupten viele“, versetzte Hanna achselzuckend im Hinausgehen. „Bis später!“
Jakob zog gerade die Wochenendausgabe der HAZ aus dem Briefkasten, als ein schwarzer Jeep vor seinem Grundstück stoppte. Dem großen Wagen entstieg ein sportlich gekleideter Hüne.
„Guten Morgen“, sprach Jakob ihn an. „Wollen Sie zu uns?“
„Zu Ihren Nachbarn“, verneinte Oliver Mertens. Er sah Hanna mit dem Hund die Straße überqueren, worauf ein Lächeln sein Gesicht erhellte. „Da kommt schon die Frau meiner Träume...“
Zuerst kraulte er Geisha, die vorgelaufen war, um ihn freudig zu begrüßen.
„Hallo, meine Schöne“, wandte er sich dann an Hanna, zog sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Wie machst du das nur, dass du bereits am frühen Morgen so fantastisch ausschaust?“
Da Hanna den Nachbarn am Gartenzaun bemerkte, ließ sie Oliver gewähren.
„Man muss nur die ganze Nacht durcharbeiten“, erwiderte sie lächelnd. „Das wirkt Wunder.“
„Folglich sehnst du dich jetzt nach einem Bett“, mutmaßte er schmunzelnd. „Wie wäre es vor dem Einschlafen mit einer entspannenden Massage?“
„Ich fürchte, damit wärst du überfordert“, antwortete sie zu Jakobs Zufriedenheit. „Es dauert Stunden, bis ich einschlafen kann, weil es hier neuerdings in der Nachbarschaft einen merkwürdigen Halbidioten gibt, der die Stille des Samstag- morgens garantiert wieder nutzt, um mit seinem vorsintflutlichen Rasenmäher die Schallmauer zu durchbrechen.“
Wie erwartet wandte sich Jakob verärgert um und marschierte zu seinem Haus zurück.
„Das war er eben wohl?“, vermutete Oliver grinsend. „Der wohnt aber noch nicht lange hier, oder?“
„Seit etwa zwei Wochen“, sagte Hanna auf dem Weg über ihr Grundstück. „Allerdings brauchte er nur wenige Stunden, um sich als Nervensäge zu outen.“
„Vielleicht ist er heimlich in dich verliebt“, zog er sie auf. „Nachbarn sind schließlich auch nur Menschen.“
„Sehr witzig“, kommentierte Hanna. In der Diele nahm sie Geisha das Halsband ab. „Wo seid ihr, Mädels? Euer Erzeuger ist eingetroffen!“
Während die Kinder in ihren Zimmern noch ihre Sachen zusammenpackten, kam Marie aus der Küche.
„Guten Morgen, Oliver“, begrüßte sie ihren Ex, der sie ungeniert musterte. „Was ist?“, fragte sie verunsichert. „Weshalb starrst du mich so an?“
„Irgendwas an dir ist verändert“, sagte er nachdenklich. „Hast du dir etwa einen Freund zugelegt?“
„Und wenn es so wäre?“, antwortete sie schnippisch. „Ginge dich das was an?“
„Logisch“, bestätigte er prompt. „Immerhin bist du die Mutter meiner Kinder. Da möchte ich schon wissen, mit wem du dich ... triffst.“
„Marie hat viele Verehrer“, kam Hanna ihrer Cousine zuvor. „Es hat sich rumgesprochen, dass diese tolle Frau solo ist. Oder glaubst du, deine Geschlechtsgenossen sind blind, Olli?“
„Natürlich nicht“, gab er widerstrebend zu. „Außerdem sollst du mich nicht immer Olli nennen.“
„Ich werde es mir merken..., Olli.“
Da die Mädchen nun die Treppe herunterkamen, verzichtete er auf eine Erwiderung. Liebevoll begrüßte er seine Töchter.
Bald verließ er, von einigen Ermahnungen begleitet, mit seinen Kindern das Haus.
Unterdessen deckte Jakob den Frühstückstisch. Nur mit einer kurzen Pyjamahose bekleidet kam Jonas in die Küche.
„Morgen“, murmelte er und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. „Musst du am frühen Morgen schon so laut mit dem Geschirr klappern, dass man vor Schreck fast aus dem Bett fällt?“
„Wenn dir was nicht passt, kannst du dich ja selbst um den Haushalt und um die Versorgung deiner Kinder kümmern!“
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Hat dich schon vor dem Frühstück jemand geärgert?“ Als Jakob nur kommentarlos abwinkte, lächelte Jonas verstehend.
„Ist es möglich, dass du heute schon unserer reizenden Nachbarin begegnet bist?“
„Zwangsläufig, als ich die Zeitung hereingeholt habe. Frau Flemming war mit ihrem Hund draußen, als dieser komische Typ hier vorgefahren ist...“
„Welcher komische Typ?“
„Ein Verehrer, Lover, neuste Eroberung – oder was weiß ich“, brummte Jakob. „Nur weil er vor unserem Grundstück geparkt hat, habe ich ihn gefragt, ob er zu uns wolle. In diesem Moment überquerte nach seinen Worten die Frau seiner Träume die Straße. Nach der innigen Begrüßung hat er ihr vor dem Einschlafen eine Entspannungs-Massage angeboten.“
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