„Tatsächlich nicht?“ forderte Jakob sie heraus. „Ich hätte schwören können, dass Sie mich in den letzten zwei Wochen nicht nur einmal zum Teufel gewünscht haben.“
„Damit Sie seine Hölle aufmischen? Das hätte selbst der Typ mit dem Pferdefuß nicht verdient.“
Marie stand auf der anderen Seite der großen Küche am Herd, verfolgte aber dennoch das Gespräch in ihrem Rücken. Offenbar konnten die beiden keine fünf Minuten zusammen in einem Raum sein, ohne sich Wortgefechte zu liefern.
Unterdessen stellte Hanna fest, dass Jakob das Messer mit der linken Hand benutzte. Genau wie ihr verstorbener Mann, der ebenfalls Linkshänder gewesen war. Aus einem unerklärlichen Grund ärgerte sie diese Gemeinsamkeit.
Mittlerweile war der Tortenboden fast vollständig belegt. Nur in der Mitte fehlte noch eine Erdbeere. Gleichzeitig wollten Hanna und Jakob die Lücke mit einer halbierten Frucht füllen. Unwillkürlich berührten sich ihre Fingerspitzen. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, wobei Hanna ihre Hand so abrupt zurückzog, als hätte sie sich verbrannt.
„Nanu“, versuchte Jakob, die peinliche Situation zu überspielen. „Sie haben doch nicht etwa Berührungsängste, Mrs. F?“
„Absolut nicht“, verneinte Hanna völlig ruhig. „Bei manchen Menschen verzichte ich aber lieber auf solche Kontakte. Das ist nur eine Frage der Sympathie.“
„Herzlichen Dank für Ihre schonungslose Offenheit. Auch ich hätte es vorgezogen, Ihre Cousine allein hier anzutreffen.“
„Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass die Nummer mit der Torte nur ein Vorwand war?“ Rasch wischte sie sich die Hände an einem Stück Küchenkrepp ab. „Bin schon verschwunden“, sagte sie noch – und rauschte aus der Küche.
„Diese Frau treibt mich noch in den Wahnsinn“, sagte Jakob. „Wie können Sie es nur mit dieser Person unter einem Dach aushalten, Frau Mertens?“
„Ausgesprochen gut“, erwiderte Marie und schaltete den Herd aus. „Hanna ist eine Seele von Mensch. Sie ist überall sehr beliebt. Mir ist unbegreiflich, weshalb Sie beide so kontrovers aufeinander reagieren.“
„An mir liegt das nicht“, behauptete Jakob. „Im Grunde bin ich ein friedliebender Mensch. Gewöhnlich lasse ich mich nicht so leicht provozieren. Ihre Cousine besitzt jedoch die seltene Gabe, mich in kürzester Zeit auf Hochtouren zu bringen.“
„Umgekehrt verhält es sich anscheinend genauso. Wie Hund und Katze: Wehe, wenn sie einander zu nahe kommen.“
„Offen gestanden hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, Mrs. F. in Ihrer Küche anzutreffen. Hilft sie Ihnen öfter?“
„Manchmal bei großen Aufträgen – wenn es ihre Zeit erlaubt.“
„Haben Sie für solche Fälle nicht eine türkische Aushilfskraft?“, überlegte Jakob, obwohl er sich ungern an die Begegnung mit dieser resoluten anatolischen Dorfschönheit erinnerte. „Bislang habe ich sie hier nur ein einziges Mal gesehen.“
„Suleika ist momentan in ihrer Heimat“, schwindelte Marie. „Deshalb habe ich so viel Arbeit.“ Ein vergnügtes Lächeln erhellte ihre Züge. „Erst mal muss ich aber Ihre Unterrichtsstunde übernehmen.“ Mit einer Hand holte sie einen kleinen Topf aus dem Regal, mit der anderen winkte sie Jakob zu sich. „Kommen Sie, Herr Nachbar. Den Tortenguss dürfen Sie nach meinen Anweisungen herstellen.“
Als Hanna eine halbe Stunde später abermals die Küche betrat, war Jakob verschwunden. Forschend betrachtete sie ihre Cousine, die leise summend in einem Topf rührte.
„Du wirkst so zufrieden, Marie. Hat er dich angebaggert?“
„Selbst wenn es so wäre...“ Mit einem tiefen Seufzer schaute Marie ihre Cousine an. „Ich musste stark bleiben. Obwohl heute eine günstige Gelegenheit wäre: Du gehst abends aus, die Kinder sind bei ihrem Vater... Marie ist allein zu Haus, aber das durfte sie ihrem attraktiven Nachbarn nicht verraten, weil ihre Cousine ihr verboten hat, mit ihm anzubandeln.“
„Wie jetzt?“, fragte Hanna stirnrunzelnd. „Solltest du dich unverständlicherweise zu diesem Mann hingezogen fühlen, bin ich die Letzte, die dir da reinredet. Hör auf dein Herz und lass dich nicht davon beeinflussen, was ich über ihn denke.“
„Sie sind ein Schatz, Mrs. F.“, sagte Marie und küsste sie spontan auf die Wange. „Um ehrlich zu sein, mag ich unseren Nachbarn. – Aber ich bin definitiv nicht in ihn verliebt.“
„Sicher?“
„Ja. Sollte sich das mal ändern, erfährst du es als Erste.“
„Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte Hanna erleichtert lächelnd. Suchend schaute sie sich um. „Wo ist denn die Käseplatte geblieben?“
„Die ist inzwischen fertig“, sagte Marie mit Blick auf die große Wanduhr. „Den Rest schaffe ich allein, Hanna. Dagmar wartet bestimmt schon auf dich.“ Fragend hob sie die Brauen. „Weißt du nun eigentlich, in welchem Kostüm du den Maskenball besuchst?“
„Keine Ahnung“, gestand Hanna. „Ich verlasse mich voll und ganz auf Daggi. Hauptsache, niemand erkennt mich. Sonst verliere ich meine Wette.“
„Wenn man eine Freundin hat, die zugleich Masken – und Kostümbildnerin ist, kann eigentlich nichts schief gehen“, vermutete Marie. „Das wird ein teurer Spaß für Sandro.“
„Selbst schuld“, meinte Hanna vergnügt. „Dann verschwinde ich jetzt. Denkst du heute Abend bitte an Geisha?“
„Keine Sorge, ich vergesse unsere Hundedame nicht“, versprach Marie. „Viel Spaß!“
Eine halbe Stunde später traf Hanna im Atelier ihrer Freundin ein. Während ihres Studiums hatte sie mit Dagmar Dietrich und zwei weiteren jungen Frauen in einer WG zusammengewohnt. Seitdem waren sie miteinander befreundet.
„Was hast du dir denn für mich ausgedacht?“, fragte Hanna nach der herzlichen Begrüßung. „Oder verrätst du mir das immer noch nicht?“
„Keine Chance“, verneinte die Freundin geheimnisvoll. „Lass dich einfach überraschen.“
„Okay. – Was soll ich tun?“
„Zieh dich aus.“
„Fangen wir mit der Kostümprobe an?“
„Mit dem Schminken“, verneinte Dagmar abermals, während Hanna schon aus Rock und Bluse schlüpfte. „Den BH auch“, bat sie, so dass die Freundin nur noch einen Spitzenslip trug.
„Setz dich bitte“, bat Dagmar und schob den Stuhl vor dem Schminktisch zurecht. Zunächst legte sie Hanna einen Umhang um. Mit den Händen griff sie in das üppige Haar der Freundin, strich es zurück und fixierte es mit einigen Spangen am Hinterkopf. Anschließend forderte sie Hanna auf, ihren gesamten Schmuck abzulegen. Ohrstecker, Halskette, Armbanduhr sowie die beiden Eheringe wanderten in die Handtasche.
Nun wurde Hannas Teint sanft mit einer Lotion gereinigt, bevor Dagmar die Grundierung auftrug.
In der nächsten Stunde bestritt überwiegend die Maskenbildnerin das Gespräch, da Hanna bei der Arbeit an ihrem Gesicht möglichst keine Miene verziehen durfte.
„Kurze Pause“, sagte Dagmar schließlich, worauf Hanna die Augen aufschlug. Interessiert betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie erkannte sich selbst nicht mehr.
„Eine Schlange“, brachte sie verblüfft hervor. „Das ist unglaublich, Daggi. Wie hast du das gemacht?“
„Ein bisschen modelliert, ein bisschen gemalt...“, antwortete die Freundin lächelnd. „Gefällt es dir?“
„Es ist toll!“ erwiderte Hanna begeistert und betrachtete sich von allen Seiten. Ihre schmale Nase war völlig verschwunden. Dafür wirkte ihr Gesicht nun von den Wangenknochen her breiter und trug die typische Zeichnung eines Reptils. Nur die Mundpartie war noch frei. „Warum hast du diese Maske gewählt? Hältst du mich etwa für eine falsche Schlange?“
„Dann wären wir bestimmt nicht schon so lange befreundet“, tadelte Dagmar sie. „Die Schlange passt insofern zu dir, weil auch du gewandt bist und dich sehr geschmeidig bewegen kannst. Außerdem wolltest du eine außergewöhnliche Maskerade. Soll ich weitermachen, oder hast du Bedenken?“
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