„Damit hast du wohl recht“, sagte der Engel der Nacht. „Verrätst du uns auch, was du als unverzeihlich empfindest?
„Einen schweren Vertrauensbruch.“
„Kannst du das näher erläutern? Vielleicht anhand eines Beispiels?“
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte er, um keine Antwort verlegen. „Stell dir vor, wir beide wären ein Paar, Angel. Ein Liebepaar, wie es glücklicher nicht sein könnte ...“
„...wie es unterschiedlicher nicht sein könnte“, warf sie ein. „Ein blutdurstiger Vampir und ein sanfter Engel erscheinen mir zwar als Fehlbesetzung für dein Beispiel, aber ich bemühe mich, es mir dennoch vorzustellen.“
„Herzlichen Dank“, versetzte Jakob mit leichtem Spott in der Stimme. „Wir sind also glücklich, können uns jederzeit hundertprozentig aufeinander verlassen und haben keine Geheimnisse voreinander. Irgendwann bemerke ich jedoch, dass du mir nicht mehr richtig zuhörst, mit den Gedanken oft woanders bist und dich häufig verspätest, wenn wir verabredet sind. Das alles weckt mein Misstrauen. – Kannst du mir folgen, Angel?“
„Ohne Probleme“, bestätigte sie. „Du vermutest einen Rivalen. – Richtig?“
„Gut kombiniert“, lobte er sie. „Eines Tages sagst du mir, du hättest keine Zeit für mich, weil du dich mit... einer Kollegin treffen müsstest. Kurz entschlossen folge ich dir heimlich – bis zum Haus meines besten Freundes. Er begrüßt dich an der Tür mit einer innigen Umarmung und einem Kuss ...“
„Dadurch siehst du deine Befürchtung bestätigt“, vollendete der Engel der Nacht. „Du glaubst, ich hintergehe dich mit deinem besten Freund. Einen solchen Vertrauensbruch kannst du nicht verzeihen.“
„Nicht so voreilig, Angel“, bat Jakob. „Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. – Ich stehe also vor dem Haus und überlege, was ich nun tun soll. Es widerstrebt mir, dich erst am nächsten Tag zur Rede zu stellen, um mir dann Ausreden anzuhören...“
„Außerdem bist du gerade so schön wütend“, spottete sie. „Die beste Voraussetzung für einen Mann, eine bühnenreife Szene hinzulegen.“
„Kluges Mädchen“, lobte Jakob. „Deshalb läute ich, und als mein Freund nachlässig gekleidet öffnet, macht sich meine Faust selbständig und schickt ihn zu Boden. An ihm vorbei stürme ich ins Haus...“
„Zuerst schaust du in seinem Schlafzimmer nach“, vermutete sie. „Findest du mich dort in einem zerwühlten Bett?“
„Nein, ich entdecke dich in der Küche beim Abwasch.“
„Ach...“, entfuhr es ihr erstaunt. „Habe ich dich etwa nicht mit deinem besten Freund betrogen?“
„Mitnichten, du warst die einzige, die bemerkt hat, wie schlecht es ihm ging. Der gute Mann hatte einen Haufen Probleme: Erst war die Freundin weg, kurz darauf der Job. Mein bester Freund ertränkte seinen Kummer im Alkohol, ließ sich gehen und lebte innerhalb weniger Wochen in einem totalen Chaos. Ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Du hattest ihn irgendwann betrunken auf der Straße aufgelesen und dich seither um ihn gekümmert, ihm Trost gespendet, ihm Verständnis entgegengebracht und sein Haus nach und nach wieder in ein gemütliches Heim verwandelt.“
„Warum habe ich dir nicht längst davon erzählt?“
„Aus Loyalität: Mein Freund hat dich gebeten, zu schweigen – weil er sich geschämt hat. Er wollte nicht für einen Versager gehalten werden.“
„Trotzdem hast du mein Schweigen als einen Vertrauensbruch empfunden?“, resümierte der Engel der Nacht. „Den du nicht verzeihen kannst?“
„Das wäre zu einfach“, belehrte er sie. „Der Vertrauensbruch ist mir anzulasten, Angel. Anstatt dir zu vertrauen, habe ich dir eine Affäre mit meinem besten Freund unterstellt. Außerdem hätte mir klar sein müssen, dass mein langjähriger Freund niemals fähig wäre, etwas mit meiner Frau anzufangen. Ich hätte euch beiden vertrauen müssen.“
„Jetzt verstehe ich, Dracula“, sagte der Engel der Nacht beeindruckt. „Mit deinem Beispiel wolltest du uns vor Augen führen, dass ein schwerer Vertrauensbruch nicht unbedingt bedeuten muss, dass einer den anderen hintergeht. Misstrauen kann genauso zerstörerisch und schmerzhaft sein.“
„Man sollte den Menschen, die einem nahe stehen, nicht misstrauen“, fügte Jakob hinzu. „Wenn du das Gefühl hast, dein Partner entfernt sich innerlich von dir, sprich mit ihm darüber, anstatt dich heimlich zu quälen und dem anderen die absurdesten Gründe zu unterstellen. Solche Verdächtigungen sind meist unverzeihlich. Sie machen eine Beziehung kaputt. – Oder würdest du so etwas verzeihen, Angel?“
„Wahre Liebe verzeiht alles“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Eigentlich schade, dass wir nicht wirklich ein Paar sind, Dracula. Mit dir Versöhnung zu feiern, wäre bestimmt ein besonderes Erlebnis.“
„Ein unvergessliches“, stimmte er ihr zu. „Wir sollten uns so bald wie möglich treffen, Angel.“
„Daraus wird wohl nichts werden“, erwiderte sie mit Bedauern in der Stimme. „Nachts bin ich hier im Studio, während du durch die Botanik flatterst. Tagsüber liegst du in deinem Sarg und ich in meinem Himmelbett.“
„Das klingt wie die zwei Königskinder, die nie zusammenkommen konnten.“
„Das ist wahrscheinlich unser Schicksal.“
„Nicht unbedingt“, widersprach Jakob. „Wir warten einfach auf den Winter. Wenn die Tage kürzer sind, kann ich meine Gruft schon früher verlassen. Du gehst doch erst um Mitternacht auf Sendung. Demnach blieben uns täglich vier bis fünf Stunden.“
„Als unabhängiger Engel wäre mir das entschieden zu viel“, versetzte sie ihm einen Dämpfer. „Außerdem ist es prickelnder, nur durch unsere Stimmen in der Nacht verbunden zu sein. Du kannst mich hier jederzeit anrufen, Dracula. – So wie die anderen Zuhörer, die noch in der Leitung sind. Auch ihr Beitrag interessiert mich. Deshalb...“
„Hab schon verstanden“, unterbrach er sie. „Gute Nacht, Angel. Ich melde mich wieder.“
Es war ein wunderschöner Juninachmittag. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Durch die Wipfel der Bäume strich leise der Wind. Nur der Gesang der Vögel war zu hören; ansonsten herrschte Stille. Selbst von den Nachbarn wehte erstaunlicherweise kein Laut herüber. In knappen Shorts und luftigem Top hatte es sich Hanna im Halbschatten einer Birke auf einer Gartenliege bequem gemacht. Geisha schlief unweit von ihr im weichen Gras.
Irgendwann vernahm Hanna ein leichtes Plätschern, das sie jedoch nicht als störend empfand. Sie hing weiterhin ihren Gedanken nach. – Bis ein kalter Wasserstrahl sie traf. Erschrocken schnappte sie nach Luft und fuhr hoch. Einem weiteren Guss konnte sie nur knapp durch einen Sprung von der Liege entkommen. Es war unverkennbar: Die ungebetene Dusche kam durch die hohe Hecke vom Nachbargrundstück. Obwohl Hanna Gewalt verabscheute, befand sie sich in der Stimmung, einen Mord zu begehen. Den Angriff mit dem Wasserwerfer würde sie diesem unverschämten Kerl heimzahlen!
Lautlos wie eine Katze schlich sie zum Ende der Hecke. Bei Maries Kräuterbeet verhielt sie und tat, als würde sie Unkraut zupfen. Wie erwartet dauerte es nur einige Augenblicke, bis Jakob auf der anderen Seite des Zaunes stehen blieb. Das Wasser hatte er abgedreht, hielt den Schlauch aber noch in der Hand.
„Hallo, Frau Flemming“, sprach Jakob seine Nachbarin an. „Schöner Tag heute.“
Bis vor wenigen Minuten war er das noch, dachte sie grimmig, zwang jedoch ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, während sie an den Zaun trat.
„Sind Sie schon wieder fleißig bei der Gartenarbeit?“
„Einer muss sich ja darum kümmern“, erwiderte Jakob erfreut darüber, dass sie ihn nicht einfach ignorierte. „Der Boden ist völlig ausgetrocknet. Deshalb habe ich heute statt in eine Kettensäge in einen soliden Gartenschlauch investiert.“
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