Bei Mekinskys Schlussworten setzte wieder reges Gemurmel im Gerichtssaal ein. Er merkte, dass sein Plädoyer den gewünschten Eindruck bei den Geschworenen hinterlassen hatte. Mit ernster Miene, aber innerlich belustigt, schritt er würdevoll zu seinem Tisch, legte Brunner wie mitfühlend die Hand auf die Schulter und setzte sich neben seinen Assistenten Markus Kienzl.
„Die Damen und Herren Geschworenen haben nun beide Seiten gehört,“ stellte Richter Hartmann fest, „bitte wägen Sie in Ihrer nun folgenden Juryberatung alle Argumente, Zeugenaussagen und Beweise nach bestem Wissen und Gewissen ab und treffen Sie danach Ihre Entscheidung. Gerichtsdiener, begleiten Sie die Geschworenen in das Beratungszimmer.“
Der Gerichtsdiener erhob sich und lotste die Geschworenen aus dem Saal. Mekinskys Blick kreuzte zufällig jenen von Ben Khaheli, das Opfer Brunners Gewalttätigkeiten, und der Anwalt konnte dessen Verachtung fast körperlich spüren. Schnell drehte er sich zu seinem Assistenten um.
„Lust auf einen Cappuccino, Markus?“
„Klar, wenn Sie zahlen.“
„Aber sicher. Schöne Erfolge soll man doch gebührend feiern, findest du nicht?“
„Was macht Sie so sicher, dass die Sache durch ist?“, fragte der Assistent, während er die Unterlagen in seinem Aktenkoffer verstaute und seinem Chef nachhetzte. Mekinsky hatte schon zwei Schritte Vorsprung blieb aber abrupt stehen. In der vorletzten Reihe saß ein Mann, dessen äußere Erscheinung nirgendwo unpassender erschien als in einem Wiener Gerichtssaal. Der Mann trug ein Stirnband mit seltsamen, rotgelben Symbolen, ähnlich jenen, die von Indianern oder Hippies getragen werden. Sein langes, schmutziggraues Haar umrahmte ein wettergegerbtes, braungebranntes Gesicht, dem nur schwer ein genaues Alter zuzuordnen war. Das weiße Hemd umhüllte einen schlanken, drahtigen Körper, der so im Widerspruch zum Gesicht des Mannes stand wie die Sonne zum Mond. Mit stechendem Blick aus schwarzen Augen, die ebenso gut ein Tor direkt in die Hölle sein konnten, musterte der Mann den Anwalt.
„Gut gemacht, Staranwalt“, wandte sich der Fremde an Mekinsky, „beeindruckend, wie Sie sich für Ihren Mandanten einsetzen.“
„D-Danke“, erwiderte Mekinsky verwirrt. Die Anrede Staranwalt irritierte ihn. Okay, er war ein Staranwalt. Mit allen Facetten, die dazugehörten. Aber er verbot jedem, ihn so zu nennen, auch wenn es ihm insgeheim schmeichelte. In seiner Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner jedenfalls kam diese vermeintliche Bescheidenheit gut an. Wie, zum Teufel, kam der Alte dazu, ihn so zu nennen? Ehe er sich ein genaueres Bild machen konnte, schob ihn Markus weiter.
„Wir sollten uns beeilen, sonst bleibt nur ein Stehkaffee“, drängte Markus. Das Argument zog. Hastig schritten die beiden Juristen Richtung Cafeteria, wo sie gerade noch den letzten freien Tisch ergattern konnten.
„Zwei Cappuccino, Claudia“, bestellte Mekinsky in Richtung Theke und wandte sich an seinen Assistenten. „Hast du den Alten mit dem Stirnband und den grauen Haaren gesehen?“
„Nein, was ist mit dem?“
„Nichts – aber der hat mich angesehen, als würde er mich fressen wollen und nannte mich Staranwalt.“
„Na und – Sie sind doch einer“, grinste Markus frech.
„Willst du deinen Kaffee aus der Schnabeltasse schlürfen?“
Markus Kienzl schmunzelte, was den spitzbübischen Ausdruck seines jungen Gesichtes noch verstärkte. Er war Ende zwanzig, groß gewachsen, etwas schlaksig, aber durchaus der Typ Mädchenschwarm. Ein Image, das ihm bei Griess, Mekinsky & Partner auch durchaus anhaftete, obwohl niemand je einen Beweis für die Richtigkeit gehabt hätte. Das Du-Sie-Verhältnis zwischen seinem Chef und ihm ging darauf zurück, dass Mekinsky seinen Assistenten von Anfang an duzte und Kienzl das Du-Wort erst dann zugestehen wollte, wenn dieser einen entscheidenden Hinweis in einem Fall beigesteuert hätte. Markus Kienzl nahm es mit Ironie, denn in der Realität hatten schon einige Fälle des Chefs durch ihn einen oft unerwarteten positiven Ausgang genommen.
Die beiden Anwälte diskutierten, während sie ihre Getränke konsumierten, über eine neue Idee der Wiener Grünen betreffend Verkehrspolitik und waren sich alsbald einig, dass es sich dabei um kompletten Schwachsinn handelte.
„Ich bin gespannt, wie sich die Jury entscheidet“, wechselte Kienzl das Thema, „die Geschworenen haben nach Ihrem Plädoyer auf mich mehrheitlich überzeugt gewirkt.“
„Kann man nie wissen, aber in Kürze sind wir schlauer.“ Wie auf ein geheimes Zeichen hin ertönte eine Glocke in der kleinen Cafeteria, die signalisierte, dass die Verhandlung fortgesetzt wurde. Mekinsky legte fünf Euro auf den Tisch und die beiden Juristen begaben sich in den Gerichtssaal zurück. Beim Eintreten ertappte sich Mekinsky dabei, wie er als erstes dorthin blickte, wo vorhin der Fremde gesessen hatte. Doch der Platz war leer.
Brunner wurde von zwei Justizwachebeamten hereingeführt und nahm zwischen seinen Verteidigern Platz. Mekinsky und Kienzl versuchten aus den Gesichtern der Geschworenen abzulesen, wie es gelaufen sein könnte, doch die meisten blickten nur starr zu Boden.
„Sehr geehrte Damen und Herren, erheben Sie sich bitte für die Urteilsverkündung“, forderte der Gerichtsdiener und alle im Saal leisteten, von Spannung erfüllt, Folge. Richter Hartmann eröffnete das Finale.
„Meine Damen und Herren Geschworene, sind Sie zu einem Urteil gekommen?“
Der Vorsitzende der Geschworenen erhob sich.
„Ja, Euer Ehren, das sind wir.“
Der Gerichtsdiener schritt würdevoll zur Geschworenenbank, wo ihm der Vorsitzende ein Stück Papier überreichte. Der Beamte gab es an den Richter weiter. Hartmann setzte sich die Lesebrille auf, faltete das Schriftstück auseinander und verkündete: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Herr Gustav Brunner ist schuldig der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 88 des österreichischen Strafgesetzbuches. Herr Brunner ist weiter betreffend die Anklage nach dem Verbotsgesetz 1947– Wiederbetätigung – nicht schuldig.“ Heftiges Stimmengemurmel setzte ein. Ben Khaheli stieß einen Schrei aus und sprang, wie viele andere auch, auf.
„Ruhe im Saal, Ruhe!“, forderte Richter Hartmann, und zum Zeichen des Nachdrucks hämmerte er lautstark auf seine Tischplatte. „Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!“
Brunner fiel Mekinsky in die Arme, und Kienzl folgte seinem Beispiel. Die drei Männer hinter dem Tisch der Verteidigung benahmen sich wie Fußballspieler nach dem erlösenden Tor.
„Gustav Brunner wird daher zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, davon drei zur Bewährung ausgesetzt, verurteilt“, verkündete der vorsitzende Richter weiter. „Die verbüßte Zeit in der Untersuchungshaft wird angerechnet. Gegen dieses Urteil kann binnen vierzehn Tagen schriftlich Berufung erhoben werden. Damit ist die heutige Sitzung beendet.“
Der Hammer sauste wie zur Bestätigung auf die Tischplatte des Richters und wirkte wie ein Signal. Brunner löste sich von seinem Anwalt und dieser erkannte Tränen in den Augen des Neonazis. Dieser hartgesottene Mann, der keinerlei Skrupel kannte, einen anderen Menschen nur wegen dessen Herkunft zu verprügeln, hatte tatsächlich feuchte Augen. Angewidert wandte sich Mekinsky ab, zog Kienzl hinter sich her und kämpfte sich durch die Menge der Prozessbesucher Richtung Ausgang.
„Dafür möge der Teufel Sie verfluchen und Ihre Seele in die ewige Verdammnis stürzen!“, schrie Ben Khaheli Mekinsky nach. Der tat so, als höre er nichts und schlüpfte, Kienzl wie einen treuen Hund im Schlepptau, aus dem Gerichtssaal. Die beiden Anwälte hasteten durch einen Nebenausgang aus dem Gerichtsgebäude, überquerten die Alserstraße und näherten sich der Tiefgarage.
„Kann ich mir noch schnell Zigaretten besorgen?“, fragte der Assistent.
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