Er legte seine Hände auf ihre Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. Doch Anud wehrte ihn ab. Er seufzte.
„Bitte gib mir ein wenig Zeit. Ich muss darüber nachdenken.“
Zitternd und mit klammen Fingern zog sie ihren dicken Wollumhang so eng um sich zusammen, dass es ihr wehtat. Sie fror entsetzlich. „Orumban, mein Entschluss steht fest. Es geht jetzt nur noch darum, ob du mich begleitest und zu mir stehst, oder ob du mich in dieser schrecklichen Situation im Stich lässt.“ Perle um Perle fiel zu Boden, und Anud merkte es kaum. Wie betäubt starrte sie den Baum an, den sie so sehr liebte, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Nun stand auf einmal alles auf dem Spiel. Nicht nur ihr Leben, sondern auch das, was sie mit Orumban verband. Und diesen Zustand konnte sie kaum ertragen.
Der Eichenmann schien, ihre Verzweiflung zu spüren. Sein Blick wurde sanft, während er noch einmal versuchte, sie in den Arm zu nehmen. „Anud“, raunte er leise. „Ich will dir nicht wehtun, es tut mir leid. Das alles ist gerade auch für mich zu viel. Gib mir bitte etwas Zeit, damit ich darüber nachdenken kann. Es ist so eine wichtige Entscheidung.“
„Du musst dich lediglich für oder gegen eine Zukunft mit mir entscheiden. Ich hatte nicht geglaubt, dass dir das so schwerfällt.“
„Anud, so einfach ist das nicht.“
„Doch, es ist ganz einfach! Es geht nur um ein Ja oder ein Nein zu uns.“ Anud hatte kein Gefühl mehr in ihren Beinen. Der Boden unter ihr schien sich aufzulösen. „Liebst du mich, Orumban? Willst du dein Leben mit mir verbringen oder nicht? Es gibt nur diese eine Frage, die du mir beantworten musst. Jetzt.“
Plötzlich gellten laute Rufe über die Lichtung. Reiter preschten auf Anud zu, ein halbes Dutzend Soldaten. Sie kamen aus dem Nichts. Die Männer sprangen von ihren Pferden. Anud fluchte. Sie hätte besser aufpassen müssen! Wie hatte das passieren können! Fassungslos starrte sie die Bewaffneten an, die auf sie zuliefen. Sie konnte nicht schreien, sie konnte nicht wegrennen.
Einer der Soldaten ergriff ihren Arm. Ein zweiter packte sie an der anderen Seite. Nichts war von dem Respekt geblieben, mit dem diese Männer sie bisher behandelt hatten. Und genauso wenig war von Anuds Fluchtplänen übrig. Ihr Traum von einem Leben in Sicherheit an Orumbans Seite lag in Scherben. Nun gab es für sie nur noch Shuruan. Und den Tod. Und seltsamerweise machte ihr das jetzt auch nichts mehr aus. Es war vorbei. Alles.
Benommen blickte sie noch einmal zu ihrem Geliebten zurück. Sie sah, dass einer der Soldaten sich an Orumban zu schaffen machte, der wieder mit dem Baum verschmolzen war, und mit seinen kahlen Ästen um sich schlug. Sie roch Qualm. Entsetzt sah sie, wie sich kleine Flammen in Orumbans Rinde fraßen und begannen, am Stamm hinaufzuklettern. Von Herzschlag zu Herzschlag wurden die Feuerzungen größer und hungriger. Verzweifelt schrie Anud auf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, selbst zu verbrennen. Und dabei fror sie noch immer.
„Lasst ihn in Ruhe!“, rief sie, befahl sie, flehte sie. „Er hat niemandem etwas getan. Ihr habt doch mich, ihr habt doch jetzt mich ...“ Tränenperlen verstopften ihre Kehle, sodass sie nicht mehr weitersprechen konnte. Die Soldaten zerrten sie auf ein Pferd. Dann brachten sie sie fort. Anud konnte das Gesicht nicht von der verqualmten Lichtung abwenden, auf der sich Orumban unter Schmerzensschreien im Todeskampf wand. Das Knistern der Flammen dröhnte in Anuds Ohren, und die erbarmungslose Hitze, die ihren Liebsten verschlang, brannte sich in ihr Herz. Ein letzter erstickter Schrei zerriss den Frieden des Waldes. Dann war da nur noch das Knacken des Feuers, das mit jedem Schritt ihres Pferdes leiser wurde, bis es erstarb.
Corum war es gar nicht wohl. Nachdem er sich von Anud verabschiedet hatte, war ein ungutes Gefühl in seinen Bauch hineingekrochen. Und dieses Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Es hatte ihm auf dem Heimweg die Beine schwer gemacht. Und als er dann zu Hause war, hatte es seine Hände so ungeschickt werden lassen, dass Balothu ihn nass gespritzt und weggeschickt hatte, weil er auf der Harfe kaum einen Ton getroffen hatte.
Jetzt saß der Sänger in seiner Hütte und grübelte. Der Bärenwald war, soweit Corum das sagen konnte, schon ganz in Ordnung. Auch wenn die Wächterbäume so ihre Eigenarten hatten. Corum hatte sich noch nie wirklich mit ihnen unterhalten und besonders musikalisch waren sie auch nicht. Dafür aber ziemlich steif und eingebildet. Nur wer sie sehr höflich darum bat und ihnen schmeichelte, hatte eine Chance, in ihr Herrschaftsgebiet eingelassen zu werden. Ildagars Soldaten würden sich bestimmt nicht die Mühe machen, ihre Eitelkeit zu streicheln. Aber selbst wenn die Soldaten den Wald vermutlich nicht betreten konnten, gab es dort noch genügend Gefahren.
Auf einmal wurden Corums Beine so unruhig, dass er aufstehen musste. Er begann zu laufen, stolperte immer schneller im Kreis durch den kleinen Raum. Und mit jedem Schritt wurde die Angst in seinem Bauch größer. Schließlich rannte er, wie wenn all die Bären, Wölfe und Unholde des Waldes bereits hinter ihm her wären. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, Anud in die Höhle zu bringen?
Da fingen seine Ohren etwas ein. Corum erstarrte. Er schüttelte den Kopf. Nein, da war nichts – oder doch? Er lauschte mit rasendem Herzen in die Stille. War es nur seine Angst, oder war da draußen wirklich etwas? Corum strengte seine Sinne aufs Äußerste an, und dann wurde ihm klar, dass er tatsächlich etwas hörte. Es war kein wirkliches Geräusch, eher eine Stimmung, die sich in der vertrauten Melodie der Landschaft um ihn herum, verändert hatte.
Mit zittrigen Knien drückte er seine Harfe an sich. Dann schlich er nach draußen. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Nichts.
Plötzlich hörte er, wie Balothu aufgeregt zu brausen begann. Der kleine Mann machte ein paar Schritte auf seinen Freund zu und erschrak. Der Fluss peitschte wild gegen sein Ufer, spritzte und gurgelte, wie der Sänger es noch nie erlebt hatte.
„Was ist los?“, quetschte Corum durch seine trockene Kehle.
„Gefahr“, antwortete der Fluss, und sein Wasser brodelte, wie wenn es kochen würde. „Die Bäume haben es mir gesagt. Geh in den Wald, Gefahr!“
Corums Knie gaben nach. „Ist Anud in Gefahr? O Balothu, ich habe es geahnt! Warum hab ich sie nur so leichtsinnig im Stich gelassen?“ Und im selben Moment war ihm die Antwort klar. Seine Angst vor dem Wald war es gewesen. Er hatte so schnell wie möglich wieder zu seiner Wiese zurück gewollt, wo er den Himmel über sich sehen konnte und lauter friedliche Wesen um ihn herum waren. Er hatte nur an sich gedacht.
Voller verzweifelter Wut schlug der kleine Mann seine Fäuste auf den Wiesenboden. Er wusste, dass er sofort loslaufen musste, um zu retten, was noch zu retten war. Aber seine Beine schlotterten vor Angst. Er fühlte sich wie gelähmt. Was würde ihn dort im Wald erwarten? Zerriss gerade ein wilder Eber seine Freundin? Oder hatte ein bösartiger Baum sie geschnappt, um sie mit seinen Ästen zu erwürgen? Oder war sie in eine Bärenfalle gestürzt? Lag sie bereits mit zerschmetterten Gliedern in einem Felsloch? Oder …
„Lauf los, Corum, lauf!“
Eine eisige Woge ergoss sich über den Sänger. Das half. Er rappelte sich hoch, umklammerte seine Harfe und begann zu rennen.
Einige Zeit später war er bei dem versteckten See angekommen. Er zitterte so sehr, dass er ein paar Mal fast ausgerutscht wäre, als er das Wasser auf den schmierigen Steinen überquerte. Dann kletterte er zur Höhle hoch. Sie war verlassen. Hastig blickte er sich nach seiner Freundin um. Doch sie war nicht da.
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