Es dauerte nicht lange, bis die beiden einen schmalen Wasserlauf erreichten. Diesem folgten sie eine ganze Weile lang auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad, bis vor ihnen ein kleiner See auftauchte. „Wir sind da“, sagte Corum. Er zog seine Harfe hervor und spielte zur Begrüßung ein paar Takte, und sofort stimmte das Wasser gurgelnd und spritzend in die Musik ein.
Als er sein Instrument wieder weggesteckt hatte, balancierte er über ein paar große Steine am Uferrand, bis er an eine steil aufragende Felswand gelangte. Anud folgte ihm. Sie musste gut aufpassen, um nicht auf den glitschigen Felsen auszurutschen. Doch dann sah sie, was der Musiker ihr zeigen wollte: Aus einigen schmalen Ritzen an der Felswand sickerte Wasser heraus. Hier war die Quelle, aus der sich der kleine See speiste.
Corum streckte seine Hand aus und hielt sie in den Wasserstrahl, bis sie voll war. Dann hob er sie an die Lippen und genoss jeden Schluck. Er füllte seine Hand noch einmal und ließ nun Anud daraus trinken. Das Wasser tat gut nach der anstrengenden Wanderung. Und Corum genoss es, nun so unbeschwert mit seiner Freundin zusammen lachen zu können.
Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, deutete Corum auf das gegenüberliegende Ende des Abhangs. Das Gestein war dort gröber zerklüftet, als auf dieser Seite. Doch man musste schon genau hinsehen, um den schmalen Sims erkennen zu können, in dessen Hintergrund sich eine große dunkle Höhlung gegen den hellen Fels abzeichnete. Corum fasste Anud an der Hand. „Wir müssen den See auf diesen Steinen überqueren. Doch Vorsicht, ein paar davon wackeln.“
Er ging seiner Freundin voraus und führte sie sicher, bis sie am anderen Ufer auf den Vorsprung klettern konnten.
Die Höhle war größer, als sie aus der Entfernung ausgesehen hatte. Denn sie ging ein gutes Stück in die Tiefe. Dabei machte sie einen Bogen, hinter dem man vor neugierigen Blicken geschützt war. „Corum, das ist ein wunderbares Versteck.“ Anuds Augen leuchteten. „Es ist genau das, was ich brauche!“
Gemeinsam richteten sie die Höhle so wohnlich ein, wie es gerade ging. Dann machten sie es sich auf den Felsvorsprung am Eingang bequem und ließen die Beine in den See hängen. Sofort umspielte das Wasser ihre Füße, neckte sie und spritzte an ihren Beinen hoch.
„He, nicht so stürmisch!“, rief Corum, und der See zügelte sein Temperament ein wenig. Dann wurde der Musiker ganz ernst. „Du musst ab jetzt sehr wachsam sein. Dies ist Anud, eine gute Freundin. Sie ist in Gefahr. Die Soldaten des Königs sind hinter ihr her. Sie wird eine Weile hier wohnen, und du musst sie nach besten Kräften beschützen, hörst du?“ Ein bestätigendes Glucksen war die Antwort.
Dann machte sich Corum auf, um im Wald Feuerholz zu sammeln. Die Nächte wurden schon empfindlich kalt, und Anud sollte nicht frieren müssen. Als alles für einen längeren Aufenthalt vorbereitet war, verabschiedete er sich. Er versprach, gleich am nächsten Tag wiederzukommen und nach ihr zu sehen. Und als Anud ihm zum Abschied ihr strahlendstes Lächeln schenkte, hüpfte sein Herz vor Freude.
Nachdem Corum gegangen war, wurde Anud unruhig. Sie tigerte durch die Höhle, räumte alles noch einmal um, doch sobald sie damit fertig war, war auch dieses ungute Kribbeln in ihrem Bauch wieder da. Was war nur mit ihr los? Sie war hier in Sicherheit, die Stille zwischen den Bäumen draußen war perfekt. Es gab keinen friedlicheren Ort auf dieser Welt, und sie stand hier mit schweißnassen Händen und zitternden Beinen!
Sie setzte sich auf den Felsvorsprung, starrte in den Wald und versuchte, etwas von seiner Ruhe in sich aufzunehmen. Aber das machte sie nur noch nervöser. Es war viel zu still hier! Auf der Burg herrschte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ein quirliges Treiben. Doch hier war sie allein. Das war es, was sie jetzt fast wahnsinnig machte. Sie brauchte Menschen um sich herum. Sie musste spüren können, dass noch irgendwer da war!
Corum hatte mit dem See gesprochen, also konnte sie das auch tun. Anud rappelte sich auf und rief dem Gewässer etwas zu. Doch so oft sie es versuchte, bekam sie keine Antwort. Dann sprach sie die Bäume an, die in Rufweite lebten. Aber diese waren entweder genauso verstockt wie der See oder leblos wie der Fels um sie herum.
Sie hielt die Stille nicht mehr aus. Ja, es war ein Risiko, die Höhle zu verlassen. Aber wenn sie hier blieb, würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren, deshalb musste sie es trotzdem tun. Sie brauchte irgendein lebendiges Wesen, mit dem sie reden konnte. Und es gab hier im Wald jemanden, der erfahren musste, was passiert war. Deshalb stieg sie nun auf die glitschigen Trittsteine hinunter und fühlte sich dabei augenblicklich besser.
Anud kannte den Wald eigentlich ganz gut. Aber in dieser Gegend war sie noch nie gewesen. Dennoch fühlte sie sich unter all den Bäumen nicht fremd. Im Gegenteil: Als Corum ihr eine Höhle im Wald vorgeschlagen hatte, hatte ihr diese Idee nicht nur deshalb gefallen, weil sie hoffte, dort vor den Soldaten sicher zu sein. Sie hatte eine ganz besondere Beziehung zu diesem Wald. Und mit einem seiner Bewohner verbanden sie sehr tiefe Gefühle.
Nicht alle Bäume in Daras waren beseelt. Aber jetzt, da sie unter die majestätischen Kronen getreten war, konnte sie spüren, dass diese hier auf eine ähnliche Weise lebendig waren wie sie selbst. Noch einmal rief Anud den Wald an, und diesmal tat sie es ruhig und mit kräftiger Stimme. „Ihr Bäume, könnt ihr mir den Weg zu Orumban zeigen?“
Sie lauschte in die dämmrige Stille. Zuerst regte sich nichts. Doch plötzlich begann eine Eiche ganz in ihrer Nähe, sich ihr zuzuwenden. Der Baum ächzte und streckte sich. Dann bewegte sich auf halber Höhe des Stammes die Borke. Zwei Augen und ein Mund formten sich zwischen den harzigen Furchen.
„Du willst zu meinem Bruder Orumban?“, tönte eine raue, tiefe Stimme durch die Stille. Die Eiche wandte mit lautem Knacken und Rauschen das Gesicht unter ihrer herbstbelaubten Krone Anud zu. Dabei flatterten einige von den wenigen rot verfärbten Blättern zu Boden, die sich bis dahin noch zwischen den Zweigen hatten festhalten können.
Anud trat einen Schritt vor. „Ja, er ist ein guter Freund von mir. Ich möchte mit ihm sprechen.“
„Hm.“ Der Baum zog die Stirn in Falten. „Orumban hat aber eigenartige Freunde.“
Verärgert entgegnete Anud: „Na, das ist ja wohl seine Sache. Kannst du mir sagen, wie ich zu ihm finde?“
Noch einmal schien der Eichenmann zu überlegen. Anud stellte insgeheim fest, wie froh sie war, dass ihr Orumban im Denken etwas schneller war, als sein Bruder hier. Doch dann streckte der Baum knarzend seine Äste in eine Richtung. Und nicht nur er, sondern alle anderen Eichen ringsum taten es ebenfalls. Sie hatten sich auf eine geheimnisvolle lautlose Art miteinander verständigt. Eine Gasse entstand.
„Geh zu Orumban, wir werden dich leiten.“
Anud bedankte sich und machte sich in der angegebenen Richtung auf den Weg.
Mit jedem Schritt, den sie auf dem weichen, wurzeligen Waldboden lief, fühlte Anud sich wohler. Ihre Beine trugen sie wieder mit der gewohnten Sicherheit, und ihre Gedanken wurden klarer. Bei jedem Atemzug gab ihr die kühle, harzige Waldluft neue Kraft. Und von den dichten Stämmen um sie herum fühlte sie sich geschützt.
Bis gestern hatte es in ihrem Leben kaum ernst zu nehmende Gefahren gegeben. Sicher, die eine große Bedrohung war schon immer über ihr geschwebt. Seit ihrem ersten Atemzug war sie dem Feuerfürsten versprochen. Das hatte sie immer gewusst. Und vor dem Tag, an dem sie Shuruan würde heiraten müssen, hatte sie immer Angst gehabt. Doch dieser Tag war stets weit weg gewesen. So weit weg, dass sie sich sogar in Orumban verliebt hatte. Und nun war diese schwelende, unwirkliche Bedrohung von einem Moment zum nächsten zu einer ganz konkreten Gefahr geworden.
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