Corum wollte weglaufen, aber seine Beine bewegten sich nicht. Starr vor Angst krallte er sich in seiner Bettdecke fest und zog sie Millimeter für Millimeter weiter nach oben. Immer höher, bis zu seiner Brust und eng an seinen verkrampften Hals heran. Er presste sie auf seinen Mund, schob sie über die Nase, bis zum unteren Rand seiner Augen.
Die Schritte waren nun nah, viel zu nah. Corum hörte sie in seiner Panik nicht mehr, aber sein Instinkt wusste, dass sie da waren. Schweißtropfen rannen über sein Gesicht, während er zusammen mit der Decke in seinem Bett immer weiter zurückwich. Auf einmal spürte er die Wand in seinem Rücken. Er saß in der Falle.
Regungslos starrte er zur Tür hinüber, die im Mondlicht gespenstisch fremd aussah. Da bewegte sich der Riegel. Ein unförmiger schwarzer Schemen glitt in den Raum. Corum schrie auf. Dann verschwamm alles um ihn herum, und tiefe Stille senkte sich in seine Ohren.
Als der kleine Mann wieder klar sehen konnte, erblickte er ein vertrautes Gesicht. Und dies war nicht irgendein vertrautes Gesicht. Es war das einzige, das in der Lage war, sein Herz zum Singen zu bringen. Aber nun war etwas Fremdes in diesem Gesicht. Etwas, das sein Unbehagen noch verstärkte. Denn in den Augen der jungen Frau stand blanke Angst.
„Du, Anud?“
„Ich brauche deine Hilfe.“
Der Musiker ließ zögerlich seine Decke ein wenig sinken. Er atmete tief durch. Das klang nicht gut, gar nicht gut. Doch die junge Frau ließ ihm nicht viel Zeit, um weiter darüber nachzudenken.
„Die Soldaten meines Vaters sind hinter mir her. Du musst mich verstecken!“
Erscheckt zog er die Decke wieder ein Stück höher. „Die Soldaten? Dich verstecken? Aber wieso denn?“
Anud lauschte kurz in die Dunkelheit. Aber außer Balothus leisem Plätschern war alles ruhig.
„Es ist der Fluch, der schon seit vielen Generationen auf meiner Familie liegt, und jetzt bin ich dran.“
Der Sänger zog fragend die Stirn in Falten.
„Shuruan, sein erpresserischer Handel mit Daras. Du musst doch davon gehört haben!“
Corum schüttelte nur steif seinen Kopf, auf dem winzige Goldsternchen zwischen den kastanienfarbenen Locken im Mondlicht glitzerten. Anud rang nach Luft. Sie ließ sich auf das Bett sinken und barg den Kopf zwischen ihren Händen, bis sich ihr Atem ein wenig beruhigt hatte. Dann strich sie sich mit einer energischen Bewegung die langen schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte zu ihrem Freund hinüber.
„Shuruan ist ein Dämon, das fleischgewordene Böse. Er tyrannisiert Daras seit Jahrhunderten. Vor langer, langer Zeit lebten alle Dariden friedlich miteinander. Sie bestellten das fruchtbare Land, beteten zu den Göttern und hatten keine Feinde. Weder Hunger noch Naturkatastrophen suchten sie heim. Niemand musste Not leiden, und es gab kaum einen Grund, Angst zu haben. Doch eines Tages tauchte ein Wesen auf, das alles veränderte: Shuruan. Ohne Grund durchpflügte dieser Dämon aus Feuer eine Siedlung nach der anderen, tötete die Menschen, die dort lebten und verbrannte ihre Häuser. Er verschlang alles, was ihm in den Weg kam. Doch damit nicht genug. Er brachte eine Armee Feuerreiter mit, die das ganze Land verwüsteten. Die Leute flohen, aber bald gab es kein Versteck mehr, in dem sie vor Shuruan und seinen Reitern sicher gewesen wären. Der Feuerfürst brachte das ganze Land in seine Gewalt und zwang König Batalan einen Handel auf, der bis heute gilt. Er bot an, Daras künftig zu verschonen, wenn ihm ab sofort jede erstgeborene Tochter des Herrscherhauses zur Frau gegeben würde. Batalan hatte keine Wahl. Er stimmte zu und übergab seine Tochter dem Dämon. Daraufhin zog sich der Feuerfürst mit seinen Reitern in die Berge zurück. Die Frau nahm er mit. Danach hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört. Aber auch Shuruan hielt sich an die Vereinbarung und tut das bis heute. Man sagt, er schläft im Schwarzen Gebirge und erwacht nur, um eine neue Braut in Empfang zu nehmen. Auch seine Feuerreiter sollen schlafen und auf den Tag warten, an dem ihr Fürst sie wieder erweckt, um erneut Schrecken und Verderben über Daras zu bringen.“
Sie wischte sich verstohlen über die Augen, und ein paar winzige Perlen rollten zwischen ihren Fingern hindurch auf den Boden. In Daras wurden Tränen zu Perlen, damit selbst die Traurigkeit etwas Schönes bekam. Anud beachtete sie nicht weiter.
„Seit diesem Tag haben sich alle Könige von Daras an diese grausame Abmachung gehalten. So viele ihrer Töchter wurden diesem Dämon schon geopfert!“ Sie stockte. „Und nun bin ich an der Reihe.“
Corum brauchte eine Weile, um all das zu begreifen. Mit todbringenden Ungeheuern, Not und Verzweiflung hatte er bisher noch nichts zu tun gehabt.
„Du musst den Feuerfürsten heiraten? Suchen dich deshalb die Soldaten?“
Sie nickte. Wieder glitten kleine Perlen über ihr Gesicht. „Bald ist mein 20. Geburtstag. Dann soll ich Shuruan ausgeliefert werden. Corum, ich will das nicht! Und mein Vater weiß das. Deshalb will er mich nun mit Gewalt dorthin schicken.“ Sie japste nach Luft. „Corum, ich bin so gut wie tot!“
Jetzt rang auch der Musiker nach Luft. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume.
„Du musst mich verstecken. Mein Vater hat mir verboten, die Burg zu verlassen, bis es soweit ist. Er hat Angst, dass ich ihm Schwierigkeiten mache und weglaufe, und genau das habe ich auch vor! Deshalb hat er sogar Wachen vor meiner Kammer postiert, die auf mich aufpassen sollen. Ich musste aus dem Fenster klettern, um zu entkommen.“ Wieder rollten Perlen über Anuds Kleid auf den Boden. „Corum, mein eigener Vater ist bereit, mich an Shuruan zu verkaufen! Und er wird dies auch gegen meinen Willen durchsetzen. Er opfert die eigene Tochter dem Wohl seines Volkes! Ja, so ist er. Immer pflichtbewusst! Seine Familie kommt erst an zweiter Stelle oder noch später.“ Sie zuckte zusammen und lauschte.
„Balothu würde uns doch warnen?“, fragte sie. Als der Sänger nicht reagierte, wiederholte sie ihre Frage noch einmal.
Corum nickte. „Der Fluss verändert sein Lied, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht. Aber wahrscheinlich würde ich die Reiter noch eher hören als er.“
„Wir können sowieso nicht hier bleiben. Auf der Burg ist es kein Geheimnis, dass du mein Freund bist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich bei dir suchen. Du musst mich irgendwo anders verstecken. Kennst du nicht einen sicheren Platz?“
Corum tat sich mit dem Denken immer noch schwer. Verwirrt und bleich presste er sich an die Wand in seinem Rücken, die Finger fest in die Decke gekrallt. Da beugte sich Anud zu ihm hinüber und packte ihn mit beiden Händen. „Sie sind hinter mir her. Ich brauche ein sicheres Versteck, Corum! Kennst du eines?“
„Ich ... ich weiß nicht“, stotterte er. In seinem Kopf herrschte eine abgrundtiefe, schwarze Leere. Und Anud schien ihm das anzusehen. Sie schüttelte ihn immer wieder, und als das keinen Erfolg brachte, ließ sie ihn wieder los. Sie stand auf, ging zum Wassereimer, der in einer Ecke stand, und kippte ihn über Corums Kopf aus. Der Musiker prustete laut und schüttelte sich. Aber seinen Gedanken hatte der kalte Guss gut getan.
„Du willst dich verstecken“, sagte Corum, während er sich mit einem trocken gebliebenen Zipfel seiner Decke das Gesicht abtupfte.
„Ja!“, nickte sie. „Ich selbst kenne keinen Ort, an dem ich vor den Häschern meines Vaters wirklich sicher wäre. Kennst du kein gutes Versteck?“
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