Mit einem Mal kam Anud die Gegend bekannt vor. Hier die Buche, die von einem Blitz gespalten worden war. Dort der Felsen, der die Form eines Adlers hatte. Schon konnte sie in der Ferne die kleine Lichtung erkennen, auf der ihr Liebster lebte. Fast wäre sie dem Impuls gefolgt, laut rufend auf ihn zuzurennen. Doch dann hielt sie inne. Sie wusste nicht, ob ihr Vater oder die Soldaten die Stelle im Wald kannten, wo Orumban lebte. Aber möglich war es. Vielleicht lief sie ja geradewegs in eine Falle. Deshalb zwang sie sich zur Vorsicht.
So leise, wie es ihr nur möglich war, ging sie ein paar Schritte näher, stets darauf bedacht, im Schatten der dicken Stämme zu bleiben. Dann blieb sie stehen und lauschte. Aber alles, was sie hören konnte, waren die leisen Geräusche des Waldes. Sie suchte mit den Augen die Umgebung ab. Nichts. Keine Spur von einem Soldaten oder dessen Pferd. Nein, hier schien wirklich alles in Ordnung zu sein. Also lief sie die letzten Meter zu ihrem Geliebten, ohne weiter auf ihre Deckung zu achten.
„Orumban!“
Eine stattliche Eiche reagierte auf sie. Mit leisem Knarzen öffnete sich ein Paar bernsteinfarbener Augen etwas unterhalb der Stelle, an der sich die obersten Äste teilten.
„Anud!“ Freudig überrascht wandte sich der Baum ihr zu. Es knisterte kaum hörbar, als seine Rinde etwas weicher wurde. Anschließend löste sich der Schemen eines jungen Mannes aus dem Stamm heraus. Mit ein paar steifen Schritten ging er auf die Frau zu. Dann öffnete er behäbig seine borkigen Arme und zog seine Besucherin an sich.
Anud genoss seinen leidenschaftlichen, nach Harz schmeckenden Begrüßungskuss. Es schien ihr, als hätten sie sich Jahre nicht mehr gesehen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr er ihr gefehlt hatte. Hierher gehörte sie. In Orumbans Armen war sie zu Hause. Niemand durfte sie von ihrem Liebsten trennen, nicht ihr Vater, nicht Shuruan, und schon gar keine uralte Abmachung, bei der sie nicht nach ihrer Meinung gefragt worden war!
Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, konnte Anud den besorgten Ausdruck in Orumbans Gesicht sehen. „Was ist los?“, fragte er, und Anud hatte das Gefühl, er könnte die Antwort bereits selbst in ihrem Herzen lesen. Orumban war wie alle seine Baumbrüder ebenfalls sehr empfindsam, was die Gefühlslagen anderer Wesen betraf. Obwohl sie ihn nun schon so lange kannte, war sie immer wieder erstaunt, auf welch tiefe Weise er ihre Stimmungen teilen konnte.
„He“, mit einem zweigartigen Finger strich er zärtlich durch ihr Haar, „sag mir, was passiert ist.“
Anud legte ihren Kopf an seinen. Plötzlich spürte sie, wie sich Tränen in ihrer Kehle hocharbeiteten. In Orumbans Armen konnte sich die ganze Anspannung der vergangenen Stunden lösen. Doch da war noch etwas anderes, das ihr Tränen in die Augen trieb: Wut. Und diesem Gefühl wollte sie lieber nachgeben als diesem schwächlichen Gewimmer, zu dem die Verzweiflung sie gerade verführen wollte.
Als sie den Mund öffnete, um Orumban alles zu erzählen, spürte sie, wie die erste Perle über ihre Wange rollte und in das weiche Moos tropfte. Einen Moment lang beschimpfte sie sich im Stillen für diese Schwäche. Doch dann sah sie in den Augen ihres Liebsten ihre eigenen Gefühle widergespiegelt. Nein, es hätte gar keinen Sinn, vor Orumban etwas zu verbergen. Und es war auch überflüssig.
„Mein Vater hat herausgefunden, dass wir ein Paar sind.“ Ihre Kehle war eng. „Ich weiß nicht, wie er es erfahren hat, aber er weiß es. Gestern Nachmittag ist er zu mir gekommen und hat mich zur Rede gestellt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wir haben es doch immer geheim gehalten. Aber er weiß es! Und nicht nur das, er hat mich sehr entschieden an diese alte Abmachung erinnert, nach der ich niemand anderem gehören durfte, als diesem verfluchten Shuruan.“ Sie rang nach Luft.
„Du hättest ihn hören sollen: ‚Du hast deine Pflichten unserem Land gegenüber genauso zu erfüllen, wie dein Bruder Solam und ich selbst. Wir haben eine Verantwortung, und die fragt nicht danach, was wir wollen oder nicht.‘ Ich sagte ihm, dass mich diese Pflichten nicht interessieren und dass ich niemandem gehöre, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Und dass ich mich entschieden habe, mein Leben mit dir zu verbringen.“ Sie stockte.
„Er schlug mir ins Gesicht. Danach befahl er den Wachen, mich in meinem Zimmer einzusperren. Er wollte dafür sorgen, dass ich gleich heute zu diesem Scheusal aufbrechen sollte, auch wenn mein 20. Geburtstag noch eine gute Weile entfernt ist. Er sagte, er werde alles tun, um zu verhindern, dass ich durch meinen kurzsichtigen Egoismus das Wohl der Menschen in ganz Daras aufs Spiel setze.“ Verzweifelt griff sie nach Orumbans rauen Händen.
„Ist denn das, was ich will völlig bedeutungslos? Ich bin nicht nur eine Opfergabe, sondern ein fühlendes Wesen. Und ich möchte lieben und mein Leben mit dem Mann teilen, der mir so wichtig ist wie nichts anderes auf der Welt. Ist das denn so verwerflich?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Es war nicht leicht, aber ich konnte die Wachen ablenken und durch das Fenster entkommen. Ein guter Freund hat mich in einer Höhle hier im Wald versteckt, denn die Soldaten meines Vaters suchen nun die ganze Gegend nach mir ab.“
Der Eichenmann schwieg und blieb auf eine typische Baum-Weise in sich versunken. Er schwieg so lange, dass Anud unbehaglich zu frieren begann. Ein Funke Enttäuschung schlich sich in ihr Herz. Wo blieb sein Trost, sein Verständnis?
„Du bist davongelaufen“, meinte er schließlich.
Anud redete sich ein, ein wenig Mitgefühl in diesen Worten gehört zu haben, während sie bedächtig nickte. „Ja, weil ich leben will. Weil ich mit dir leben will. Und wenn das hier nicht mehr möglich ist, müssen wir eben fliehen. Wir könnten in die Berge gehen oder noch weiter, irgendwohin, wo niemand uns findet. Dort werden wir Mann und Frau, und keiner kann uns je wieder trennen!“
Statt einer Zustimmung verfiel Orumban wieder in sein Baum-Schweigen. Anud begann, diesen regungslosen Zustand zu hassen. Und je länger er dauerte, desto mehr fror sie. Unwillkürlich entzog sie sich den Armen des Eichenmannes, während er nun doch seine Sprache wiederfand.
„Ich habe nie geglaubt, dass es wirklich einmal dazu kommt. Waren wir zu blauäugig?“
„Was soll diese Frage? Das alles ist doch nicht unsere Schuld! Kommst du nun mit mir oder nicht?“
Orumban schritt schweigend den Bereich ab, den seine Baumkrone überspannte. Weiter konnte er sich nicht von seinem Stamm entfernen. Als er wieder vor Anud stand, sagte er: „Das alles kommt ein wenig plötzlich.“
„Ja, für mich auch.“ Warum zögerte er so lange?
„Was wird aus Daras, wenn wir zusammen fliehen?“
Jetzt hatte die junge Frau genug. Voller Wut stampfte sie so fest auf eine von Orumbans Wurzeln, dass er schmerzvoll zusammenzuckte. „Du redest wie mein Vater! Daras hier, Daras dort. Aber jetzt geht es um uns, unsere gemeinsame Zukunft und um mein Überleben!“
„Ja, und die Vorstellung, man könnte dich diesem Feuerfürsten übergeben, macht mir Angst. Wären die Dinge anders, würde ich dich sofort heiraten und mit dir zusammen überall hingehen – soweit ein Baum das kann. Aber es geht hier auch um etwas Größeres. Wir werden die Folgen nicht allein tragen müssen.“
Anud richtete sich vor dem Mann auf und blickte ihm fest in die Augen. „Shuruan will mich töten. Genau wie alle seine Bräute vor mir. Und das werde ich nicht zulassen. Mein Vater wird mit ihm verhandeln müssen. Er ist ein guter Diplomat, er wird eine Lösung finden. Aber ich werde nicht als Lösungsmöglichkeit zur Verfügung stehen. Also noch einmal: Wirst du mit mir kommen?“
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