„Du musst es tun. Selbst wenn ich in einem besseren Zustand wäre, könnte ich mich nicht in die Burg schleichen und Anud heimlich mitnehmen. Ein Baum ist für so eine Aufgabe schon von Natur aus noch schlechter geeignet als ein Musiker.“
„Ich habe aber Angst!“ Corum schluchzte. „Wie soll ich da hineinkommen? Wie soll ich herausfinden, wo Anud ist? Und wie soll ich sie herausholen, ohne dass wir dabei gleich zusammen wieder festgesetzt werden?“
Orumban schwieg. Corum war nicht klar, ob seine Schmerzen der Grund dafür waren. Oder ob er einfach genauso wenig Ideen für Anuds Befreiung hatte, wie er selbst. Plötzlich regte sich zwischen den Falten der Baumrinde wieder etwas.
„Vielleicht musst du Anud gar nicht heimlich befreien. Geh zu Ildagar und sprich mit ihm. Er ist ein weiser Mann. Er könnte mit Shuruan verhandeln. Vielleicht kann der Vertrag geändert werden. Vielleicht lässt der Feuerfürst sich auf eine andere Opfergabe ein.“
Corum gefiel dieser Vorschlag schon besser. Nicht, dass ihm die Vorstellung keine Angst machte, in die Stadt gehen zu müssen und in der Burg um eine Audienz beim König zu ersuchen, um ihn dann um so etwas zu bitten. Aber dieser Plan war doch viel besser, als Anud aus ihrem Gefängnis zu entführen. Und wenn es gelang, würde sie sich auch nicht mehr verstecken müssen.
„Ich werde es tun. Ich werde König Ildagar bitten, mit dem Feuerfürsten zu reden.“ Er schluckte schwer. Konnte dieser Albtraum überhaupt noch gut ausgehen?
Orumban klang erleichtert. „Das ist gut. Warte, ich werde dir etwas mitgeben.“
Ein großes, frisches Blatt wuchs aus dem verkohlten Ast, der Corum am Nächsten war.
„Nimm es“, sagte Orumban. Als Corum das Blatt festhielt, forderte er ihn auf, es flach auf seine Hände zu legen. Dann senkte der Baum wieder einen Zweig herunter, bis dicht über das Blatt. Dort begann er, wieder die seltsame Flüssigkeit auszuschwitzen, die Corum vorhin hatte kosten dürfen. Tropfen um Tropfen sammelte sich auf dem Blatt in Corums Händen, bis sich eine große Lache darauf gebildet hatte.
„Binde das Blatt nun gut zusammen, damit du den Saft auf deinem Weg zu Ildagar mitnehmen kannst. Trink immer dann einen Schluck davon, wenn die Angst zu groß wird.“
Corum tat, wie ihm geheißen. Dann bedankte er sich und sagte dem Eichenmann Lebewohl.
Es klopfte leise an Anuds Tür. Sie reagierte nicht. Sie wollte nicht reagieren. Sie war müde. Sie wollte niemanden sehen, niemals wieder. Sie wollte jetzt hier auf der Stelle verrecken. Allein und elend. Das war immer noch besser als das, was sie bei Shuruan erwartete.
Noch einmal klopfte es. Und diesmal eine Spur eindringlicher als vorher. Anud spürte schon wieder Wut in sich hochkochen.
„Na gut“, sagte sie sich, während sie sich auf die Beine kämpfte. „Wer immer da draußen steht, wird es bereuen, nicht sofort wieder gegangen zu sein.“
Sie riss die Tür auf und wich erstaunt einen Schritt zurück. „Du?“ Der junge Mann, der nun vor ihr stand, hob beschwichtigend die Hände.
„Lässt du mich herein oder frisst du mich gleich hier draußen auf?“
„Was willst du?“
„Mit dir reden, falls das möglich ist.“ Ohne auf die Beschimpfung zu warten, die bereits in der Luft lag, schob Solam seine Schwester zur Seite und trat ein.
Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erschaudern. Die Waschschüssel lag in Scherben am Boden zwischen dem zerfetzten, blutigen Bettzeug und dem Schrank, dessen Tür eingebeult und zersplittert war. Das, was einst ein blütenweißer Spitzenvorhang gewesen war, hing zur Schlinge gebunden von einem der hohen Eckpfosten des Bettes herunter. Fragend deutete Solam auf diese Konstruktion.
„Wenn ich schon sterben soll, dann kann ich auch selbst dafür sorgen“, blaffte sie ihn an. Sie warf die Zimmertür krachend ins Schloss und ging zum Bett hinüber.
„Glaubst du, das Gestell ist stabil genug?“
„Anud“, Solam rang nach den richtigen Worten. „Lass wieder etwas Vernunft in deinen Kopf. Setz dich hin, und wir reden in Ruhe darüber.“
Sie seufzte. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett sinken, und ihr Bruder setzte sich an ihre Seite. Eine Weile schwiegen sie.
„Wirst du mich aus diesem Schlamassel herausholen oder gemeinsame Sache mit unserem Vater machen?“
Solam stöhnte. „Anud, wenn ich irgendetwas tun könnte, würde ich das. Du bist meine Schwester. Glaubst du, mir geht es gut mit dem Gedanken, nicht zu wissen, was bei dem Feuerfürsten aus dir wird? Aber manche Dinge müssen wir annehmen, wie sie sind. Du kennst die alten Geschichten von Shuruan. Du weißt, wie wichtig es ist, dass du deine Aufgabe erfüllst.“
„Ja, ich soll mein Leben hingeben, nur weil Vater und dir keine andere Lösung einfällt.“
„Es ist nicht sicher, dass er ...“
Solam konnte nicht weiterreden. Verstohlen wischte er mit dem Handrücken über seine Augen. „Anud, niemand weiß genau, was mit seinen bisherigen Bräuten geschehen ist. Du solltest nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen.“
„Nein, vielleicht dürfen sie alle bis ins hohe Alter hinein von ihm eingesperrt und gequält werden. Wenn ich das so betrachte, gefällt mir die Sache schon viel besser.“
„Anud! Was soll ich denn tun? Wir haben eine Verantwortung für unser Land. Dafür wurden wir geboren. Ich kann auch nicht einfach meine Sachen packen und als Gaukler durchs Land ziehen, nur weil mir das besser gefällt, als mich tagtäglich mit den Problemen unserer Leute zu befassen und dafür zu sorgen, dass in Daras alles in geregelten Bahnen läuft. Und ein Bauer kann nicht einfach hier hereinmarschieren, sich die Krone auf den Kopf setzen und regieren. Jeder Mensch hat seine Aufgabe im Leben. Und er trägt die Verantwortung dafür, diese so gut er kann, zu erfüllen.“
„Und manche haben einfach mehr Glück bei ihrer Bestimmung als andere. Na gut, dass du es um so viel besser getroffen hast, als ich. Herzlichen Glückwunsch! Jetzt fühle ich mich doch gleich wieder richtig gut.“
„Anud, bitte, ...“
„Hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, dass du irgendwann vielleicht deine eigene Tochter zu Shuruan schicken musst? Wenn wir diesen unseligen Handel nicht jetzt ein für alle Mal beenden, wird er noch viele Generationen von jungen Frauen ins Verderben stürzen. Wir werden uns an unseren Nachfahren, deinen Kindern und Enkeln, schuldig machen, wenn wir jetzt nichts tun. Kannst du mit dieser Verantwortung leben?“
Als er nichts darauf erwiderte, stand sie auf und ging zur Tür. „Verschwinde.“
Er rührte sich nicht. In Solams Gesicht spiegelte sich seine Zerrissenheit. Doch Anud sah das nicht. Sie war in ihren eigenen Gefühlen gefangen.
„Geh!“
Er stand auf. Zögerlich machte er ein paar Schritte auf seine Schwester zu. Ihre Blicke trafen sich.
„Es tut mir leid.“ Dann wandte er sich ab und ging.
Als Corum die Stadtmauer erreichte, stand die Abendsonne bereits tief. Trotzdem war das große Osttor noch geöffnet und die Wächter dort blickten ihn nur einmal kurz gelangweilt an, bevor sie ihn passieren ließen.
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