Drinnen blieb Corum stehen. Ihm gefiel es hier zwischen den Häusern nicht. Es war hier viel zu laut, zu staubig und zu steinig. Der Lärm all der Menschen, die trotz der vorgerückten Stunde noch unterwegs waren, überflutete ihn. Irgendwo kreischten spielende Kinder, in der Gasse rechts von ihm hatten einige Frauen eine lautstarke Auseinandersetzung, im Haus gegenüber wurde eine Magd von ihrer Herrin gescholten, weil sie einen Teller hatte fallen lassen. Und dazwischen bellten Hunde, gackerten Hühner und grunzten ein paar Schweine. Corum hielt sich die Ohren zu. Wie konnte Anud das nur jeden Tag ertragen?
Erst als er den Krach aus seinem Kopf ausgesperrt hatte, konnte er sich in Ruhe umsehen, um sich zu orientieren. Der Sänger kannte sich hier nicht aus. Arnac war die Hauptstadt von Daras, das Zentrum von König Ildagars Macht. In verwinkelten Straßen reihte sich Gebäude an Gebäude. Die Straße, durch die Corum hier hereingekommen war, war verhältnismäßig breit. Sie schien geradewegs zur Burg hinauf zu führen, die auf einem kleinen Hügel an der Nordseite über all das Durcheinander hier wachte.
Ohne die Hände von seinen Ohren zu nehmen, ging der Sänger zwischen Wohnhäusern und den Werkstätten einiger Handwerker hindurch, ohne sich groß um die Leute zu kümmern, die ihm begegneten. Und schließlich wuchs das riesige Tor der äußeren Festungsmauer von Caer Arnac vor ihm in die Höhe.
Eine Weile stand der kleine Mann nur da und versuchte, dieses gewaltige Bauwerk mit seinen Augen zu erfassen. Es musste ein Wunder gewesen sein, dass Anud aus diesen Mauern schon einmal hatte fliehen können. Wie sollte sie dort nun ein weiteres Mal heil herauskommen? Corum schluckte trocken. Und wie sollte er da hineinkommen, um mit dem König zu sprechen?
Plötzlich spürte er, wie sich eine schwere Hand auf seine rechte Schulter legte. Erschreckt gab er seine Ohren wieder frei, drehte sich herum und blickte in das Gesicht eines Soldaten.
„Du bist doch Corum, der Musiker.“
Der kleine Mann starrte in das Gesicht vor ihm, und als er sein Gegenüber erkannte, erschauderte er. Vor ihm stand der Soldat, der tags zuvor seine Hütte durchsucht hatte. Der Hauptmann, von dem Anud erzählt hatte, dass er Pamir hieß.
„Du erwiderst heute also meinen Besuch bei dir?“
Vor Aufregung brachte Corum kein Wort heraus. Der Andere schien das zu merken, denn nun ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Er lächelte freundlich. „Kann ich etwas für dich tun?“
Corum holte tief Luft. Nervös blinzelnd versuchte er, sich wieder etwas zu beruhigen. Er hatte von dem Hauptmann nichts zu befürchten. Durch die Stadt zu gehen und die Burg anzuschauen war kein Verbrechen. Und im Grunde war das, warum er hier war, auch keines. „Ich möchte zu König Ildagar.“
Ungläubig begann der Wächter, zu lachen. „Zum König? Und was willst du von ihm?“
„Mit ihm reden. Wegen seiner Tochter.“
„Soso, und du glaubst, der König will auch mit dir über seine Tochter sprechen?“
Corum zuckte die Schultern. „Vielleicht nicht, aber es ist wichtig. Bitte bringt mich zu ihm.“
Der Soldat überlegte ein wenig. Dann winkte er den Sänger näher heran. „Komm mit, ich will sehen, was ich für dich tun kann.“
Erleichtert, doch nicht ohne Misstrauen tappte Corum dem Mann hinterher. Sollte es wirklich so einfach sein? Oder lief er geradewegs in eine Falle? Nach allem, was er von Anud über diesen Hauptmann Pamir erfahren hatte, hatte der ihr Vertrauen schändlich missbraucht und war nun sogar bereit, sie ihrem Vater und damit Shuruan auszuliefern. Konnte es dann nicht auch sein, dass die Freundlichkeit, die er ihm gegenüber nun zeigte, nur gespielt war, und er ihn geradewegs in den Kerker brachte? Corum stolperte, dann blieb er stehen. Ja, das machte Sinn! Pamir hatte Anud gestern tatsächlich unter seinem Bett entdeckt und wusste, dass er sie dort versteckt hatte. Dafür wurde er ihn nun bestrafen!
„Was ist los?“
„Wo bringt Ihr mich hin?“ Corum drückte seinen Rücken gegen die nächstgelegene Wand. Am liebsten wäre er jetzt umgedreht und davongerannt.
„Du wolltest doch zum König.“
Der Sänger nickte steif. „Bringt Ihr mich in den Kerker?“
Wieder lachte Pamir. „Sieht das hier etwa so aus wie der Weg zum Gefängnis? Aber wenn du mir noch länger meine Zeit stiehlst und hier festwächst, werde ich mir das mit dem Kerker noch einmal überlegen.“
Corum blickte sich um. Die gesamte Decke des hohen Flures, den sie entlanggegangen waren, war mit kostbaren Stuckarbeiten verziert. An den Fenstern aus klarem Glas hingen schwere, mit Goldfäden bestickte Vorhänge. Nein, den Weg zum Verlies stellte er sich wirklich anders vor.
Er nickte und atmete erleichtert auf. Dann folgte er dem Hauptmann, der bereits weitergegangen war.
Als sie schließlich in einem großen Zimmer ankamen, sagte der Wachmann seinem Begleiter, er solle hier warten. Corum setzte sich auf einen mit rotem Samt bezogenen Stuhl und schaute sich um. Die gesamte gegenüberliegende Wand wurde von einem Bild ausgefüllt. Darauf war ein Wesen zu sehen, von dessen Art er noch keines gesehen hatte. Es war ein Pferd, soviel konnte er feststellen. Doch dieses Tier schien ganz aus Flammen zu bestehen. Funken hüllten es ein. Es hatte flammende Hufe und einen lodernden Schweif. Auf dem Tier saß eine formlose Gestalt, die ebenfalls zu brennen schien. Man konnte sie für einen Menschen halten, denn sie hatte einen Kopf mit dunklen Augen und einen Mund. Aber anstelle von Armen und Beinen wuchsen ihr flammende Tentakel aus dem Leib, die eine schreiende Frau umkrallt hielten. Auch im Hintergrund des Reiters brannte es. Corum konnte, wenn er die Augen etwas zusammenzwickte, ein loderndes Haus erkennen. Und daneben waren noch ein paar Männer und Frauen angedeutet, die panisch wegrannten.
Es war ein scheußliches Bild, das Corum sich freiwillig nicht in seine Hütte gehängt hätte. Sahen so diese schrecklichen Feuerreiter aus, von denen Anud ihm erzählt hatte? Die Untiere, die in der Alten Zeit Daras verwüstet hatten? Wahrscheinlich. Aber warum hängte sich der König zwischen all die Pracht hier solch ein hässliches Bild? Das war ja, wie wenn jemand mitten in einem schönen Lied absichtlich einen schiefen Ton singen würde!
Corum grübelte eine Weile darüber nach. Ildagar galt als kluger und umsichtiger König. Wenn er so ein scheußliches Gemälde hier anbrachte, wo seine Besucher hergeführt wurden, dann hatte er sich bestimmt etwas dabei gedacht. Vielleicht wollte er, dass niemand vergaß, wie schlimm es den Menschen damals ergangen war. Niemand sollte je auf die Idee kommen, sich dem Willen des mächtigen und grausamen Feuerfürsten zu widersetzen.
In Corums Bauch verknotete sich etwas, als er begriff, dass Anud genau das vorhatte. Und er selbst half ihr dabei. Erschaudernd wandte er sich ab. An den anderen Seiten des Raumes gab keine Stühle. Egal. Corum wollte sich dieses schreckliche Bild nicht länger anschauen. Er stand auf und ging ein wenig herum.
Das Zimmer hatte einen eigenartigen Klang. Bei jedem Schritt auf den Marmorboden hallte das Geräusch seiner Stiefel nach. Ansonsten war es hier ganz still. Corum gefiel der Klang dieses Raumes nicht. Er war so kalt und trostlos. Ganz anders als die Geräusche draußen in der Natur, wo er zu Hause war. Er blieb stehen und schloss die Augen. Dann dachte er an Balothu und seine friedliche Wiese.
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