Da ging die Tür, durch die der Soldatenhauptmann verschwunden war, wieder auf. Pamir winkte Corum heran. „Du hast Glück, König Ildagar wird dich empfangen. Geh nun zu ihm hinein.“
Corum würgte einen Schluck Speichel hinunter. Wenn er nur wüsste, was er dem König sagen sollte. Die Angst kroch vom Bauch in seine Beine hinunter. Schnell zog er das Blatt, das ihm Orumban mitgegeben hatte, hervor, öffnete es ein wenig und leckte an dem süßen, stärkenden Saft. Sofort spürte er, wie seine Knie etwas weniger zitterten. Er holte tief Luft, dann trat er ein.
Ildagar saß an seinem Schreibtisch. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt. Als sein Besucher eintrat, richtete er sich auf und versuchte, die Müdigkeit aus seinen grau umrandeten Augen zu wischen.
Der kleine Sänger tappte ein paar Schritte auf den König zu. Dann fiel ihm ein, dass es wohl angebracht war, sich vor dem Herrscher zu verbeugen. Also senkte er seinen Kopf, bis er die feinen Linien der Bodenplatten ganz deutlich erkennen konnte, und auch seine schmutzigen Stiefel, die so gar nicht zu dem glänzenden Stein, auf dem sie standen, passten.
„Du bist also der Musiker, mit dem meine Tochter sich angefreundet hat.“
Ildagars unerwartet weiche, tiefe Stimme legte sich wie Balsam über Corums aufgeregtes Herz, das nun noch ein wenig verwirrter war. Wie konnte ein Mann, der so grausam seine eigene Tochter einem Dämon ausliefern wollte, solch eine schöne Stimme besitzen?
„Ich heiße Corum.“ Er überlegte, ob er noch etwas zur Begrüßung sagen oder tun musste. Doch der König kam sofort zur Sache.
„Pamir hat mir gesagt, dass du mit mir über meine Tochter sprechen möchtest.“
Corum spürte, wie seine Kehle eng wurde. Er wollte antworten, aber seine Stimme weigerte sich. Ein kratziges Gurgeln war alles, was er hervorbrachte.
Der König zog die Stirn in Falten. Dann lächelte er matt. „Wenn du mit mir reden willst, solltest du auch etwas sagen.“
Das wusste Corum. Aber sein Hals war staubtrocken, und sein Kopf leer. Nein, so ging das nicht. Da erinnerte er sich an seine Harfe, die er unter dem Umhang trug. Ihm kam eine Idee. Im Reden war er nicht gut. Aber singen, das konnte er. Kurzerhand holte er sein Instrument heraus, ließ seine Finger über die Saiten gleiten, und als die ersten Töne erklangen, war der Bann gebrochen.
„O großer, erhabener Ildagar, o verehrter Herrscher von Daras.“ Auf einmal ging alles ganz einfach. Corum spielte auf seiner Harfe und sang dazu. „Ihr habt eine wunderbare Tochter, ich kenne sie schon lange. Doch nun hat sie große Sorgen, große Sorgen, o König. Denn sie soll Shuruan heiraten, den gar fürchterlichen Herrscher des Feuers. Anud hat Angst, o König. Sie fürchtet sich, bald sterben zu müssen. Deshalb ist sie weggelaufen, vor Eueren Soldaten geflohen. Sie hat mir alles erzählt und war ganz traurig, o Herr, und verzweifelt. Und das hat mich selbst traurig gemacht und verzweifelt. Darum hab ich versprochen, ihr zu helfen. Doch alles, was ich bisher getan habe, war vergeblich. Deshalb bin ich nun hier bei Euch, o großer Ildagar. Ihr seid der Einzige, der Anud die Traurigkeit wieder nehmen kann – ihr und auch mir selbst. Darum bitte ich euch mit diesem Lied und den Klängen meiner Harfe: Erlöst Euere Tochter aus ihrem Schmerz. Lasst Euer Herz von meinem Lied erweichen. Sprecht mit dem Herrn des Feuers. Ihr seid ein mächtiger König, o großer, erhabener Ildagar. Ihr könnt Shuruan ein anderes Pfand für den Frieden anbieten. Und dadurch euere Tochter befreien.“
Als der letzte Ton verklungen und die kalte Stille in den Raum zurückgekehrt war, stand der König seufzend auf. Behäbig, als wäre er ein Greis, ging er zum Fenster hinüber. Lange starrte er wortlos hinaus, und Corum war sich nicht sicher, ob er ihn vielleicht schon vergessen hatte. Da tropfte dicht neben Ildagars Füßen eine kleine Perle auf den Marmorboden. Und schließlich wandte der Herrscher seinen Blick wieder dem Sänger zu.
„Meine Tochter scheint dir ja wirklich sehr am Herzen zu liegen.“
Corums Wangen röteten sich, während er den Blick verlegen abwandte.
„Und mich hältst du für ein grausames Untier, das seine Tochter ins Unglück stürzt, um seine eigene Haut zu retten.“ Der König schritt langsam zum Tisch zurück und stützte sich mit den Händen schwer darauf ab.
„Vielleicht hast du recht. Vielleicht bin ich genau das. Aber ich bin nicht nur Anuds Vater. Zu allererst bin ich der Herrscher dieses Landes. Ich bin all den Menschen verpflichtet, die in Daras leben und sich darauf verlassen, dass ich sie beschütze. Und meine Tochter ist unseren Leuten genauso verpflichtet wie ich, auch wenn sie das nicht wahrhaben will.
Shuruan besteht seit langer Zeit auf diesen grausamen Handel. Jeder, der bislang versucht hat, die Abmachung zu brechen, hat das bitter bereut. Das ganze Land hat dafür bezahlen müssen. Der Feuerfürst ist eine Bestie, voller Hass auf alle Dariden. Er lässt sich auf keine Verhandlungen ein. Er will Daras brennen sehen und alle Menschen, die hier leben, grausam ausrotten! Unser sicheres Leben kann jederzeit vorbei sein, wenn Shuruans Wut erneut aufflammt und er seine Feuerreiter wieder zum Leben erweckt. Der Frieden, in dem du aufgewachsen bist, ist nicht selbstverständlich, Corum. Er ist das Resultat all der Opfer, die meine Vorfahren schon gebracht haben. Und nun liegt es an Anud und mir, dafür zu sorgen, dass Daras weiterhin das blühende Land bleibt, das wir alle kennen.“
In Corums Ohren schwirrte es. Das lief gar nicht gut. „Herr, ich verstehe, dass ihr die Bewohner von Daras vor Shuruan beschützen wollt. Müsstet Ihr dann aber nicht auch euere Tochter schützen? Es gibt doch bestimmt noch irgendeinen anderen Weg, den Feuerfürsten zu besänftigen.“
„Wenn es den gäbe, dann hätten ihn meine Ahnen schon längst gefunden. Für sie war es auch nicht leicht, Shuruan ihre Töchter zu überlassen.“
„Aber ...,“
„Nein! Ich kann nichts für dich tun, Corum. Aber du könntest mir helfen. Rede mit meiner Tochter, versuche, ihr klarzumachen, wie wichtig es ist, dass sie sich in ihr Schicksal fügt. Du bist ihr Freund, vielleicht kannst du sie zur Vernunft bringen. Anud wird den Feuerfürsten heiraten, ob sie will oder nicht. Aber sie könnte es sich selbst und auch mir leichter machen, wenn ich sie nicht dazu zwingen müsste.“
Entsetzt starrte der kleine Mann den König an.
„Bist du bereit, meiner Tochter ins Gewissen zu reden? Nur so kannst du ihr helfen.“
Corum schüttelte den Kopf. Erst ganz langsam, doch dann immer bestimmter. Nein, dies war nicht die Art von Hilfe, die er Anud versprochen hatte.
„Schade. Dann müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind.“ Ildagar blickte seinen Besucher noch einen Moment lang an. „Es war schön, dich kennengelernt zu haben. Dein Lied hat mich berührt. Geh, wenn du willst, zum Dank dafür in die Gesindeküche. Iss und trink dort, soviel du willst. Du bist mir jederzeit auf meiner Burg willkommen, und ich würde mich freuen, bald wieder ein Lied aus deinem Mund zu hören.“
Noch immer schüttelte der Sänger den Kopf. Damit hörte er auch nicht auf, als Pamir ihn sanft an der Schulter nahm und aus dem Raum führte.
Als sie den Burghof erreicht hatten, strich der Hauptmann Corum aufmunternd über die Schulter. Pamir war während des Gesprächs im Zimmer geblieben und hatte alles mit angehört.
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