Corum schloss seine Augen und lauschte in die leisen Geräusche des frühen Morgens hinaus. Balothu plätscherte sein gewohntes Lied, ein paar Vögel begleiteten ihn. Ansonsten konnte er nichts hören, und erst recht nichts, das ihm Angst machen würde. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Ungelenk stand er auf. Alles tat ihm weh. Er war müde, eigentlich viel zu müde für diese tiefe Unruhe in seinem Bauch. Mit steifen Fingern griff er nach seiner Harfe, die zusammen mit ihm am Boden genächtigt hatte. Doch er konnte sie kaum festhalten, so sehr zitterten seine Hände. Sollte er Anud wecken? Nein, zuerst musste er sich etwas beruhigen.
Der kleine Mann holte sich seinen Mantel und schlüpfte dann geräuschlos nach draußen. Ihn fröstelte. Obwohl es noch nicht Winter war, hatte die Morgensonne kaum genug Kraft, um ihn zu wärmen. Corum atmete tief durch. Die kühle Luft tat ihm gut. Dann schlurfte er durch den feuchten Morgentau zu Balothu hinüber, der noch halb unter einer dünnen Nebelschicht verborgen war.
Nahe am Ufer ragte ein großer, flacher Steinbrocken zwischen Kieselsteinen und verdorrten Grashalmen hervor. Corum ging darauf zu, wickelte sich fest in seinen Umhang und setzte sich.
„Guten Morgen, Balothu!“, rief er, und als der Fluss ihm mit dem gewohnten freudigen Plätschern antwortete, fühlte er sich zum ersten Mal seit Anuds Auftauchen letzte Nacht wieder sicher.
Erleichtert sog er die würzige Morgenluft in sich hinein. Er konnte den Fluss, die Wiese und den Wald deutlich riechen. Einige dünne Sonnenstrahlen streichelten sein Gesicht und brachten die kleinen Sterne in seinem wild gelockten Haar zum Glitzern. Hier war er zu Hause, hier war er geborgen. Hier waren Dunkelgnome und Soldaten bedeutungslos.
Er atmete auf. Dann drückte er seine Harfe an die Brust und begann, sie sanft zu liebkosen. Seine Finger waren noch immer unsicher, und die kalte Luft machte sie starr. Trotzdem gelang es ihm, dem Instrument eine Melodie zu entlocken. Und bereits mit den ersten Tönen begann ihr Zauber, zu wirken. Es schien, als würde die Sonne sich anstrengen, noch ein wenig schneller über die Baumwipfel hochzuklettern, um besser zuhören zu können. Der Wind legte sich und der Nebel löste sich auf. Die Bäume des nahen Waldrandes reckten ihre Kronen der Wiese entgegen und wiegten sich leicht im Takt. Es dauerte nicht lange, da war Corums Fels wie jeden Morgen von Eichhörnchen, Füchsen und allerhand anderem Getier umringt, die alle der Musik lauschten.
Balothu veränderte seine Strömung. Kleine Strudel bildeten sich am Ufer. Sie umspielten einige Steine und die langen, dürren Schilfhalme, die dort den Sommer über gewachsen waren. Es sah aus, als würde das Wasser tanzen.
Doch plötzlich waren alle Tiere verschwunden. Balothu spritzte hektisch auf, und die Harfe stieß einen quietschenden, schrillen Ton aus. Corums Herz begann zu rasen. Da war etwas! Etwas, das nicht hierher gehörte. Und es kam näher.
Hufschläge. Es mussten mindestens fünf Pferde sein. Und Corum war sich sicher, dass diese Tiere nicht von seiner Musik angelockt worden waren. Hastig schaute er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Und da sah er auch schon die Reiter in ihren schweren Rüstungen, die quer über die Wiese genau auf seine Hütte zu trabten. Soldaten! Was nun? Sein Herz raste. Anud! Er musste Anud in Sicherheit bringen! Panisch rappelte er sich auf. So schnell er konnte rannte er auf sein Heim zu.
„Schneller!“, trieb er sich verzweifelt an. „Noch schneller!“ Er konnte nicht gut rennen, und jetzt kam er sich langsam wie eine Schnecke vor. Die Pferde waren schon so nahe. Er musste es schaffen!
Als er seine Hütte erreicht hatte, stürmte er hinein und warf sich, sobald er drinnen war, gegen die Tür. Er sah, dass Anud die Reiter ebenfalls bemerkt hatte. Bleich starrte sie ihn an.
„Sie kommen“, rief Corum, und seine Stimme überschlug sich. „Was sollen wir bloß tun?“
Anud war noch völlig schlaftrunken.
„Die Soldaten werden gleich hier sein!“ Hastig suchte er nach einem Versteck. „Kriech unter das Bett, schnell! Ich werde sie davon abhalten, die Hütte zu betreten.“
„Das wird nicht klappen ...“
„Wir müssen es zumindest versuchen, los!“ Noch nie in seinem Leben war er so resolut gewesen. Aber jetzt ging es um seine Freundin, die wichtigste seiner Freundinnen. Die, für die sein Herz schlug, und der er all seine Lieder schenken wollte. Zu seinem Erstaunen gehorchte Anud ihm ohne weitere Widerrede. Und gerade noch rechtzeitig.
Klirrende Schritte näherten sich der Tür. Corum keuchte. Es gab jetzt nur noch zwei Möglichkeiten. Er konnte hier drinnen die zwei, drei Augenblicke warten, bis die Soldaten hereinkamen und alles so gut wie verloren war. Oder ... Der kleine Sänger zwang sich, sich aufzurichten. Er drückte die Harfe wie einen stärkenden Talisman an sich. Dann trat er einen Schritt von der Tür weg, damit er sie öffnen konnte. Dabei stolperte er über seine Füße. Als er wieder Halt hatte, wankte er nach draußen.
Es waren nicht fünf, sondern sogar sechs bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Einer der Männer, der wie ihr Anführer aussah, war bereits abgestiegen und kam näher.
„Guten Morgen.“ Corum versuchte, seine Panik so gut es ging zu unterdrücken. Die Männer sollten glauben, sie hätten ihn gerade aus dem Schlaf geholt. „Was kann ich für Euch tun?“ Er gähnte und rieb sich die Augen.
Der Soldat kam so nahe heran, dass jeder noch mögliche Fluchtweg von einer Wand aus Muskeln, die in einer metallbeschlagenen Lederpanzerung steckten, verstellt war. Corums Blick tänzelte zwischen dem Schwert und dem Messer am Gürtel des Hauptmannes hin und her.
„Du bist Corum, der Musiker?“
Der Sänger legte seinen Kopf in den Nacken, um das Gesicht des Anderen sehen zu können.
„Ich weiß, dass du Anud kennst, die Tochter unseres Königs.“
Einen Moment lang überlegte Corum. „Ja, ich kenne sie“, sagte er schließlich zögernd. „Ein wenig kenne ich sie. Sie kam ab und zu her, um mir beim Harfenspiel zuzuhören. Manchmal haben wir auch zusammen gesungen. Sie mag meine Musik, wisst Ihr?“
Der Soldat nickte uninteressiert. „Ist sie jetzt bei dir?“ Diese Frage brachte Corum in ein weiteres Dilemma. Er verabscheute Lügen. Er mochte keine Lügner, und selbst zu lügen war ihm bis zu diesem Augenblick niemals in den Sinn gekommen. Aber er konnte dem Kommandanten auf keinen Fall die Wahrheit sagen! Und das war im Moment wichtiger. Deshalb musste er sich jetzt einfach überwinden.
Mit größter Anstrengung und voller Ekel schüttelte der Sänger den Kopf und starrte dabei zu Boden. Jeder Kurzsichtige hätte in seinen Augen erkennen können, dass er log. Doch auch so schien er auf den Soldaten nicht besonders überzeugend zu wirken.
Denn der packte ihn nun grob am Arm und drückte ihn mit dem Rücken so fest an die Hüttentür, dass Corum kaum noch atmen konnte. „Versuche nicht, mich anzuschwindeln. Sonst werde ich dich mitnehmen und in den dunkelsten Kerker der Burg sperren. Dort werden unsere Folterknechte die Wahrheit schon aus dir herausholen. Also noch einmal: Ist Anud hier?“
Nun geschah etwas, das Corum auch noch nicht oft erlebt hatte. Er wurde wütend. Mit einer ruppigen Bewegung riss er seinen Arm los und schob den Hauptmann ein Stück von sich weg. Dann baute er sich vor dem Bewaffneten auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte sein Gegenüber mit blitzenden Augen an. „Nein!“, log er diesmal erstaunlich glaubhaft. „Und droht mir nicht.“ Er holte tief Luft. „Wieso sucht ihr Anud denn? Wurde sie entführt? Habt Ihr nicht genug auf sie aufgepasst? König Ildagar wird Euch und Eueren Trupp an meiner Stelle in den Kerker sperren, wenn Anud etwas passiert ist.“
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