Der Musiker dachte angestrengt nach. Dann blickte er in Anuds Augen und nickte. „Es gibt da eine Höhle. Sie liegt an einem einsamen Quellsee im Wald. Manchmal gehe ich dort hin, um mit ihm zusammen zu musizieren. Er hat eine bezaubernde Stimme ...“
„Kannst du mich dorthin bringen?“
Corum nickte.
„Dann lass uns gehen!“ Anud streckte ihrem Freund die Hand entgegen und wandte sich zur Tür. Doch der zog seine inzwischen völlig durchnässte Bettdecke fest an sich.
„Jetzt sofort?“, zauderte er. „Es ist Nacht, und ich gehe nie in der Nacht nach draußen. Die Dunkelgnome gehen jetzt um, das weißt du doch, und ...“
„Die Dunkelgnome haben mich den ganzen Weg hierher in Ruhe gelassen. Im Moment habe ich nur Angst vor den Soldaten. Also komm!“
Doch Corum schüttelte entschieden den Kopf. Nicht einmal Anud würde ihn dazu bewegen können, das Haus zu verlassen, bevor das erste Morgenlicht die Wiese wieder erhellte.
„Nein, ich geh nicht raus. Du kannst dich unter meinem Bett verkriechen, wenn du magst. Aber ich werde nicht dort hinausgehen, wo sich Dunkelgnome und Soldaten herumtreiben, und wer weiß was noch alles. Nein, nein, nein!“
Anud zischte einen unterdrückten Fluch. Sie versuchte es noch einmal, aber Corum war nicht umzustimmen. Schließlich gab sie auf. „Na gut, ich werde diese Nacht hier bei dir bleiben. Hoffentlich suchen mich die Soldaten solange noch woanders. Und bei Tagesanbruch bringst du mich in diese Höhle, ja?“
Er nickte. In seinem Innern tobte ein Kampf darum, ob er nun mehr Angst vor der Nacht da draußen haben sollte oder vor den Soldaten, die nach Anuds Bericht jederzeit hier auftauchen konnten. Schließlich entschied er sich, dass die Angst vor der Nacht gerade den Vorrang hatte, denn die Dunkelheit war bereits hier. Bei den Soldaten gab es noch die Chance, dass sie vielleicht gar nicht kommen würden.
„Hast du noch eine andere Decke?“, fragte Anud, und Corum brauchte wieder einen Moment länger als angemessen, bis er begriffen hatte, was sie von ihm wollte.
„Eine Decke?“
„Ja, eine Decke. Ich möchte gern versuchen, diese Nacht noch ein Auge zuzutun, wenn wir schon hierbleiben. Du wirst mir doch sicher dein Bett anbieten, und das, was du da festhältst, ist mir zu nass, um mich damit zuzudecken.“
Corum blickte von ihr zu der Bettdecke in seinen Händen und wieder zurück. Dann nickte er. Mit zittrigen Beinen stand er auf. Er warf den feuchten Stoff auf den Boden und holte aus einem Schrank eine weitere Decke heraus. „Natürlich kannst du in meinem Bett schlafen“, sagte er und überreichte ihr das Bettzeug. Und dann lächelte sie ihn zum ersten Mal in dieser Nacht freundlich, wenn auch erschöpft, an.
Dieses kleine Lächeln brachte sein Herz zum Hüpfen, und das, was Anud dann tat, ließ es ein paar Takte aussetzen. Die junge Frau breitete ihre Arme aus und zog den Mann, der ihr gerade mal bis zur Schulter reichte, fest an sich. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Stirn.
Corum stand wie angewurzelt da und konnte sein Glück kaum fassen. Völlig überwältigt von seinen Gefühlen, den guten wie den schlimmen, blieb er noch eine ganze Weile an Ort und Stelle stehen und starrte auf seine Freundin, die sich nun in seinem Bett zusammenrollte. Erst als er sich etwas beruhig hatte und er spürte, wie sehr ihm die Beine wehtaten, legte er sich in einer Ecke auf den Boden, um den unterbrochenen Schlaf wieder aufzunehmen. Er zog die feuchte Bettdecke über sich, aber sie wärmte ihn kaum. Und schlafen konnte er auch nicht. Also wartete er eben, stets in die Dunkelheit lauschend, auf das erste Morgenlicht.
König Ildagar schickte die Magd, die ihm auf einem Tablett sein Frühstück angeboten hatte, mit einer müden Handbewegung samt der Speisen wieder weg. Schwer stützte er den Kopf in seine Hände. Er bemerkte nicht, dass er dabei seinen dichten grauen Vollbart in dem Krug Dünnbier ertränkte, der vor ihm stand. Noch nie hatte er sich so alt und kraftlos gefühlt wie an diesem grauen Morgen. Zuviel Wein und zu viele Sorgen, dafür kaum Schlaf letzte Nacht. Und heute war nichts besser als gestern. Er ballte die Fäuste.„O Götter, warum habt ihr uns diesen Fluch geschickt? Wisst ihr eigentlich, was ihr von mir verlangt? Mein Leben lang habe ich alles für mein Land gegeben. Könnt ihr euch vorstellen, dass es irgendwann auch einmal für den stärksten König zu viel ist?“ Eine Perle tropfte in den Krug. „Was soll ich tun? Sagt mir doch, was ich tun soll ...“Lautes Klopfen an der Tür riss ihn hoch. Er wischte sich über die eingefallenen, dunkel umrandeten Augen. Dann richtete er sich auf und versuchte, wieder zu der majestätischen Haltung zurückzukehren, die sein Amt von ihm verlangte.Als sein Gardehauptmann eintrat, konnte Ildagar sofort sehen, dass dieser auch keine bessere Nacht gehabt hatte, als er selbst.
„Ihr habt sie nicht gefunden?“
Der Soldat schüttelte den Kopf. Ildagar stand auf und ging um den Tisch herum. Dann stützte er sich mit beiden Händen an einer Stuhllehne ab.
„Wo könnte sie sein, Pamir? Euch muss doch noch etwas einfallen. Ihr seid seit ihren Kindertagen ihr Vertrauter. Ihr kennt sie viel besser als ich. Wo hat sie sich als kleines Mädchen gern versteckt? Wer sind ihre Freunde? Wer vom Gesinde steht ihr nahe, wer außerhalb der Festungsmauern? Wer wäre bereit, sie zu schützen? Ich hätte ihr bereits viel eher verbieten sollen, die Burg zu verlassen. Aber Anud hatte da schon immer ihren eigenen Kopf. Und ich habe ihr viel zu viele Freiheiten gelassen. Das musste ja passieren!“
Der Hauptmann ging einen Schritt auf seinen König zu. „Ihr hättet sie nicht einsperren können, Herr. Dann wäre sie schon viel eher davongelaufen.“ Ildagar bemerkte, wie Pamir zögerte. Was war da gerade durch die Augen des Soldaten gehuscht?
„Ich habe sie überall gesucht, wo sie nur sein könnte. Auch aus diesem Baum konnte ich nichts herausbekommen.“ Wieder hielt der Gardehauptmann inne. Nachdem er einen Moment lang mit sich gerungen hatte, meinte er: „Eine Möglichkeit gibt es noch. Anud hat mir einmal von einem Sänger erzählt, der auf der Wiese am Fluss lebt. Mit ihm hat sie sich wohl immer wieder getroffen.“
Mit einem überraschten Schnauben verdrehte Ildagar die Augen. „Ein Baum, ein Sänger. Welche Freunde hat meine Tochter sich denn sonst noch ausgesucht?“ Doch die Empörung war nicht stark genug, um ihn vor dem Schmerz zu schützen, der sein Herz packte. Was wusste er überhaupt von Anud? Wie konnte ihm sein eigenes Kind so fremd bleiben?
Pamir senkte den Kopf. „Ich werde sofort aufbrechen und diesem Kerl zusammen mit ein paar Männern einen Besuch abstatten.“
Der König nickte. Doch als der Gardehauptmann gehen wollte, hielt Ildagar ihn noch einmal fest. „Geht mit diesem Burschen nicht zu zimperlich um. Tötet ihn, wenn er Anstalten macht, den Helden zu spielen. Ich brauche nicht noch mehr Leute die querschießen und damit ganz Daras in Gefahr bringen. Meine Tochter reicht mir da völlig aus.“
Als Corum die Augen wieder öffnete, war es bereits heller Tag. Sofort war die Erinnerung an das, was letzte Nacht geschehen war, wieder da. War das wirklich passiert oder hatte er nur schlecht geträumt? Hastig richtete er sich auf und blickte zu seinem Bett. Tatsächlich: Anud lag dort und schlief.
Während er seine Freundin eine Weile beobachtete, überrannten die Gedanken seinen Kopf. So wirklich fassen konnte er das alles noch nicht. Klar war ihm nur, dass seine Freundin in großer Gefahr schwebte. Und dass er ihr helfen musste, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das schaffen sollte. Was konnte er schon gegen den König ausrichten? Wie sollte er gegen dessen Soldaten kämpfen? Er hatte weder Waffen noch Rüstung und selbst wenn, würden die sich über seine stümperhaften Versuche höchstens totlachen. Er war Musiker, kein Kämpfer!
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