1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Erschrocken blickt sich Tina um, kann aber niemanden sehen. „Jetzt höre ich schon Stimmen. So weit ist es mit mir gekommen“, denkt sie.
„Du kannst mir ruhig glauben“, erklärt ihr Luna. „Ich bin ein Teil von dir, deshalb kannst du mich nicht sehen, sondern nur hören. Stell dir einfach vor, dass ich hier neben dir auf dem Sofa sitze.“
„Was passiert denn hier gerade?“ Tina ist verunsichert, nimmt Konradin in die Hand und hält ihn an ihr Ohr. „Kannst du jetzt auch sprechen?“, fragt sie ihn, aber er antwortet nicht. „Ein Teil von mir soll getrennt existieren? Das gibt es doch gar nicht.“ Kopfschüttelnd setzt sie den Hampelmann wieder in die Sofaecke und beobachtet ihn genau.
„In Ausnahmefällen ist alles möglich“, antwortet Luna nach einiger Zeit. „Im Hinblick auf dich ist es allerdings eine längere Geschichte. Ich versuche mich kurz zu fassen. Du bist dir nicht zu hundert Prozent sicher, ob du dich von Joachim trennen sollst, vor allem, weil du Simon über alles liebst und ihm ein intaktes Elternhaus erhalten möchtest. Richtig?“
Tina nickt automatisch, ohne genau zu wissen, wer da spricht. Konradin ist es jedenfalls nicht. Er gibt keinen Laut von sich. Träumt sie etwa schon wieder?
„Sagen wir mal, dass sich nur etwa siebzig Prozent von dir wirklich von ihm trennen wollen, dann verkörpere ich die dreißig Prozent, die unentschlossen sind. Ist das nachvollziehbar für dich?“, fragt Luna.
„Ja, aber wie soll das funktionieren, dass ein Teil von mir separat leben kann?“, möchte Tina wissen. Dies scheint wohl doch kein Traum zu sein.
„Deine Sehnsucht, der Wunsch, dass es so sein möge, war so stark, dass eine einzige Jagdszene ausreichte, um ihn in Erfüllung gehen zu lassen. Ich gehe jetzt nicht ins Detail, aber du kannst sicher sein, dass ich viel Spaß dabei habe. Immer wenn dein Ehemann Joachim – oder sollte ich besser sagen ‚unser Ehemann’ – nicht damit rechnet, tauche ich auf und sage ihm die Meinung. Ich sage ihm alles, was du zu sagen dich niemals getraut hast. So läuft das, wenn wir mit alten Freunden zusammenarbeiten und die himmlische Gerichtsbarkeit im Gange ist. Da wird der Anwalt mit seinen irdischen Gesetzen noch ins Grübeln kommen, darauf kannst du wetten.“
Tina kommt aus dem Staunen gar nicht heraus: „Das heißt also, dass Joachim dich auch hören kann?“
„Er kann mich sogar sehen, weil er ja eine andere Person ist“, erklärt Luna.
Tina kann es kaum fassen. „Dann bist du so etwas wie der Engel Max in meiner Geschichte über Simons Kindheit, den ich erfunden habe, damit er ihm die Welt erklärt und ihn beschützt?“
„So ungefähr könnte man es ausdrücken“, erwidert Luna.
„Heißt du auch Tina oder hast du einen anderen Namen?“
„Nein, ich heiße Luna. Erinnerst du dich an den ersten Absatz in deiner Geschichte über die Empfängnis von Simon, in der du den Begriff ‚Lunaception’ erwähnt hast? Da habe ich begonnen zu existieren. Ich habe dir damals schon das eine oder andere zugeflüstert. Auch die Idee mit Max stammt von mir. Du hast ja vor, diese Abhandlung einmal deinem Sohn zu schenken, wenn er erwachsen ist. Dann wird er die Botschaften von Max richtig verstehen und sie für sich nutzen können.
Was mich betrifft, so stehe ich für die weibliche Weisheit, die mit der Mondenergie verbunden ist. Meine Aufgabe besteht darin, Zugang zu tieferen Erkenntnissen zu ermöglichen. Du hast das schon immer in dir gespürt. Mein Wesenszug hat dich die Dinge hinterfragen lassen, was für deine Mitmenschen oft unbequem war. Jetzt, wo ich separat in Erscheinung trete, ist es leichter für mich, dir die Antworten zu deinen Fragen mitzuteilen. Ich bin sozusagen befreit worden. Es war ein Teil deiner Sehnsucht, dass sich in deinem Leben etwas verändern möge. Viele deiner Fähigkeiten möchten noch erforscht und ausgelebt werden. Ich, die ich die Kraft des Mondes verkörpere, gehöre dazu.“
„Habe ich diese Eigenschaft jetzt nicht mehr, wo wir getrennt sind?“, möchte Tina wissen.
„Doch sicher, das sind Qualitäten, die sich beliebig vermehren können“, antwortet Luna. „So, nun höre auf damit, dir Sorgen zu machen! Es beginnt ein wichtiger, neuer Lebensabschnitt, sowohl für dich als auch für alle anderen Beteiligten. Für jeden einzelnen ist bestens gesorgt, da kannst du mir vertrauen. Hast du dir schon alle Impfungen für Indien geben lassen?“
„Ja, habe ich.“ Tina ist verblüfft: „Du denkst ja sogar praktisch. Kannst du mich dort auf dem Laufenden halten, was hier gerade passiert?“
„Aber sicher kann ich das“, beruhigt Luna sie. „Entfernung spielt für mich keine Rolle. Also dann, überlege mal, was du anziehen willst bei dreißig Grad Hitze, die dort im Winter herrschen! Leichtes Gepäck ist wichtig, du musst ja schließlich alles im Rucksack tragen.“
Tina lacht und fragt, wie sie Kontakt mit Luna aufnehmen kann.
„Ganz einfach, du entspannst dich, du denkst an mich und schon bin ich da. Es kann aber auch sein, dass ich ungefragt auftauche.“
„Das macht nichts, darüber würde ich mich sehr freuen. Vielleicht kommt Joachim mit deiner Hilfe doch noch zur Vernunft.“
„Wir werden es erfahren“, sagt Luna und damit schwebt sie davon.
Tina muss erst einmal verdauen, was sie da gerade erlebt hat. Falls sie wirklich nicht geträumt hat und das alles stimmt, dann ist sie ja doch nicht so allein mit ihren Sorgen. Beschwingt geht sie zum Briefkasten, um die Post zu holen. Theo schreibt aus China, dass er sich sehr darauf freut, nach Hause zu fliegen und sie wiederzusehen.
„Gott sei Dank, er kommt zurück.“ Tina ist erleichtert. Im Umschlag steckt noch ein separates Blatt, auf dem sie die folgenden Zeilen liest:
Eine neue Art von Loslassen
Loslassen,
das bedeutete für mich bisher:
Trennungsschmerz,
Angst vor dem Alleinsein
und die Unvermeidbarkeit des Abschieds
von liebgewordenen Begleitern.
Loslassen
in seiner erweiterten Dimension
ist Vertrauen,
mich dem göttlichen Plan anvertrauen,
und Zuversicht in
das Eintreten von Wundern.
Loslassen
ist nicht gleich Loslassen,
doch der freie Fluss der Tränen
unserer alten Schmerzen
ist oft die Voraussetzung
für die Tränen der Freude
und Glückseligkeit.
Tina ist berührt von seinen Worten. Es kommt ihr so vor, als spüre Theo über diese weite Entfernung doch etwas von ihrem Schmerz. Sie fühlt sich reich beschenkt und überlegt, ob sie ihn überraschen soll, indem sie ihn vom Flughafen in München abholt. Froh gelaunt geht sie zu ihrem Schreibtisch und öffnet die Schublade. Sie holt das chinesische Buch heraus und liest, was sie über ihren kleinen Sohn vor zehn Jahren geschrieben hat.
S*
Mein Leben fängt ja grad’ erst an,
die Welt steckt voller Magie.
Staunt alle, was ich jetzt schon kann,
langweilig wird’s mir nie.
Alles im Leben geht einmal zu Ende, so auch die Zeit, die man im Tragetuch verbringt, ganz nah bei einem geliebten Menschen, seinem Herzschlag und seiner Atmung lauschend. Für diese Person hat so ein Riesentuch den Vorteil, dass sie die Hände frei hat und alle möglichen Arbeiten verrichten kann, während sie das ruhende Baby unter Kontrolle hat. Man denke nur an die Frauen in Afrika und ihre zufriedenen Kinder. Aber irgendwann ist man eben als Kind herausgewachsen und möchte andere Dinge tun, als vegetative Geräusche zu verfolgen. Das heißt aber nicht, dass ich keinen Körperkontakt mehr einfordere von Mama. Ich brauche sie jetzt, um mich an ihr hochzuziehen, damit ich auf meine Füße komme. Laufen lernen heißt mein nächstes Ziel.
Einmal in der Woche gehen wir zu einer Krabbelgruppe. Dort treffe ich neben meiner Cousine Lea auch noch David, Paula, Frederik und Sophie. Wir üben „integrative Kommunikation“ und trainieren unser Sozialverhalten dabei, so wie es sich für brave deutsche Kinder gehört. „Ich will jetzt den roten Teddy haben!“ – „Nein, das willst du nicht, der ist nämlich meiner!“ So würden wir es ausdrücken, wenn wir schon sprechen könnten. Stattdessen lassen unsere wilden Schreie die Mütter herbeieilen und Schiedsrichter spielen.
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