1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 In diesem Zustand scheint mir meine Mama mit ihren beiden Milchquellen das Allerbeste auf der Welt zu sein. Ich muss zwar kräftig saugen, damit süßer Saft in meinen Mund spritzt, aber die Mühe lohnt sich. So kann ich prächtig wachsen und gedeihen. Was für ein Paradies! Max möchte das auch, aber die Schutzengel ernähren sich nun mal von Sternenstaub, der in Form von Liebe zur Erde segelt, die in dieser Jahreszeit von bunten Blättern bedeckt ist, wie Max berichtet. Er hat das alles schon erkundet.
Anfangs kommt jeden Tag eine Hebamme zu uns und schaut nach, ob alles gut klappt. Wirklich ein toller Service! Nach gut zwei Wochen bekommen wir Besuch von Mamas Bruder Jürgen, seiner Frau Karin und ihrem Töchterchen Lea. Sie ist nur wenig älter als ich und reist auch nicht ohne Schutzengel. Wie der heißt, weiß ich noch nicht, er hat sich nicht bei mir vorgestellt. Dafür unterhält er sich angeregt mit Max darüber, wie unsere Begrüßung hier auf der Erde verlaufen ist.
Lea wohnt nicht weit entfernt von uns, sodass wir künftig viel Zeit zusammen verbringen können, wenn wir nicht gerade schlafen. Da wir beide von unseren Müttern im Tragetuch durch die Gegend geschaukelt werden, ist das mit der irdischen Verdauung und den dazu gehörigen Blähungen kein großes Problem für uns. Nachts werden wir „gepuckt“, das heißt fest eingewickelt, so wie die Hebamme es Mama erklärt hat. Diese alte Wickeltechnik soll aus Russland stammen, habe ich gehört. Leas Mutter war sehr dankbar für den Tipp, denn seither konnte ihre Tochter nachts viel ruhiger schlafen.
Kaum habe ich mich in meiner neuen Umgebung halbwegs eingelebt, kommen die Eltern von Papa, um mich zu bestaunen. Großeltern gehören eben auch zur Ahnenreihe. Dabei stelle ich fest, dass sie gar nicht richtig sprechen können. Sobald sie sich mir zuwenden, geben sie völlig unartikulierte Laute von sich wie „Dadada“ und „Wawawa“. Eine eigenartige Welt ist das!
Zum Glück reden meine Eltern ganz normal mit mir und umsorgen mich liebevoll. Kürzlich bekamen wir ein Werbepäckchen von einer Firma für Babynahrung. Darin befand sich Trockenpulver zum Anrühren – igitt, igitt! Eine schwarzweiß gefleckte Plastikkuh zum Aufblasen war auch dabei. Wir haben sie „Isabella“ getauft, weil sie so große, blaue Kulleraugen hat. Wenn man auf ihren Bauch drückt, quietscht sie.
So vergehen meine ersten Monate auf der Erde. Ich lerne zu schreien, wenn ich hungrig bin oder meine Windel gewechselt werden muss. Oder ich schreie einfach so, weil ich möchte, dass sich jemand um mich kümmert. Das tun sie dann wirklich, die Erwachsenen, vor allem meine Mutter Tina mit ihren herrlichen Brüsten.
Mein erstes Weihnachtsfest naht. Max ist ganz begeistert von dem großen Tannenbaum, der im Wohnzimmer steht. An den Zweigen hängen Rauschgoldengel und allerhand Glitzerzeug. „Leise rieselt der Schnee“ singt es aus dem Lautsprecher und „Süßer die Glocken nie klingen“. Viel mehr kriege ich im Alter von knapp drei Monaten noch nicht mit.
Wenn mir langweilig ist und ich aus unerklärlichen Gründen schreie, bekomme ich einen Schnuller in den Mund gesteckt. Das ist so etwas wie Ersatz für Mamas Brust, mit dem Unterschied, dass aus dem Gummiteil nichts sprudelt, wovon man satt werden könnte. Ohne Schnuller im Mund tanze ich mit Mama, die mich im Arm hält, nach fetziger Musik oder wir turnen gemeinsam auf der großen Matratze im Schlafzimmer. Rolle seitwärts kann ich schon fast perfekt. Ihr Gymnastikunterricht führt dazu, dass ich ziemlich schnell kapiere, wie man sich von hier nach dort bewegt, am besten immer genau dorthin, wo sich aufregende Dinge befinden. Da gibt es zum Beispiel löffellange Klötzchen aus Birnbaumholz, die genau in meine kleinen Hände passen und auf denen man so schön rumkauen kann.
Zum Windelwechsel parkt mich Mama auf einer weichen Decke, die sie auf den Boden gelegt hat, in weiser Voraussicht, damit ich nicht von der Wickelkommode herunterfalle. Gestern hat sie vergessen, die Creme wegzuräumen, mit der sie meinen Popo vor dem Wundsein schützt. Das war meine Chance! Mama hatte den Deckel liegen gelassen, um schnell in Papas Büro zum Telefon zu laufen, das schon eine ganze Weile klingelte. Diese weiche Crememasse fühlte sich herrlich an. Ich hatte schon einen großen Teil davon verteilt und wollte gerade damit anfangen, meine weißen Finger in den Mund zu stecken, als Mama zurückkam und mich daran hinderte. Damit sie in solchen Situationen nicht böse wird, habe ich eine spezielle Strategie entwickelt. „Mama, darf ich von dir essen?“, sagt ihr dann mein unwiderstehlich flehender Blick und schon knöpft sie ihre Bluse auf, wo mich zwei Brüste voll mit köstlichem Nektar erwarten. Bald danach schlafe ich selig süß und bin mit Max im Traum unterwegs.
Ganz allmählich werden die Tage heller und Mama geht jetzt öfter mit mir draußen in der Natur spazieren. Im Tragetuch vor ihrem Bauch genieße ich die Frühlingssonne, die frische Luft und zugleich ihre Nähe. Was das Tragetuch für mich bedeutet, ist für sie ihr Tagebuch. Sie schreibt dort alles Mögliche hinein, öfter auch was über mich.
Ich liebe dich,
den Blick deiner Augen,
die mich anstrahlen.
Ich liebe dich,
dein Fliegengewicht auf meinem Bauch,
wenn du mein Haar
und mein Gesicht untersuchst.
Ich liebe dich,
wenn du hinter mir herkrabbelst
und Halt an mir suchst,
wobei du übermütig jauchzt.
Ich liebe dich,
deine Stimme, die fröhlich
die ersten Silben verlauten lässt.
Ich liebe dich, Simon,
mindestens so sehr wie du mich.
Ich glaube, meine Eltern sind so was wie Nomaden. Die kenne ich noch von meinem letzten Erdenleben, sie sind ständig unterwegs. Schon seit Wochen verpacken meine aktuellen Erzeuger alles Mögliche hier zu Hause in Kisten und Koffer. Mein Papa ist nun als Anwalt zugelassen und kann eine eigene Kanzlei eröffnen. Da er möglicht viel Zeit mit mir und Mama zusammen verbringen möchte, hat er ein altes Haus mit einem Wirtschaftsgebäude nebenan gekauft. Mit seinen vielen Erkern sieht es aus wie eine kleine Burg und trägt den Namen „Tannenhof“. Es ist mindestens hundert Jahre alt, so dass eine Menge renoviert werden muss. Mamas Eltern und Verwandte sind handwerklich begabter als die von Papa und helfen kräftig mit. Papas Eltern helfen dafür bei der Finanzierung. So arbeiten die Großeltern Hand in Hand, die einen bezahlen und die anderen arbeiten.
Im Sommer ist es dann endlich so weit und wir können einziehen. Ich habe nun ein eigenes Zimmer und Papa hat ein Büro zu Hause. Für die Mandanten gibt es einen gemütlichen Empfangsraum. Frau Jakobi, seine neue Sekretärin, kommt dreimal die Woche, um den Schriftkram zu erledigen. Mama sorgt dafür, dass es allen gut geht, kocht Kaffee und nimmt Telefonate entgegen, wenn Papa und Frau Jakobi nicht da sind. Außerdem versorgt sie mich und den Haushalt, meine wunderbare Mama.
In ihrem Tagebuch steht:
„Wie erfüllt ist mein Leben, seit ich Mutter bin! Gemeinsam mit meinem Kind entdecke ich die Welt ganz neu. Jeden Tag zeigt mir Simon kleine Wunder. Ich hatte schon fast verlernt, alles wie eine kleine Kostbarkeit zu betrachten. Jetzt erlebe ich es wieder, wie es ist, die scheinbar unwichtigen Dinge zu würdigen. Der Alltag entfaltet sich ganz neu vor mir, sodass jeder Handgriff etwas Magisches hat. Du lässt mich teilhaben an deiner Freude. Alles ist wundervoll, im wahrsten Sinne des Wortes, voll von Wundern. Du zeigst mir, was wirklich zählt. Dein ganzes Wesen besteht aus Liebe zum Menschsein. Das lässt mich alle trüben Gedanken vergessen. Ich brauche dir nur beim Spielen zuzuschauen und erlebe deine Glücksmomente auf der Reise ins Leben.“
S*
Die folgenden Wochen sind durchzogen von Abschiedsstimmung und Joachim zeigt seine Schattenseiten. Jetzt, wo für ihn „kein Ehedruck mehr“ besteht, wie er sagt, hält er sich mit seinen negativen Gefühlen seiner Frau gegenüber nicht mehr zurück. Wenn Simon nicht da wäre, hätte Tina längst das Weite gesucht. Die gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn ist für sie umso wertvoller, je näher der Termin rückt, an dem Joachims Ultimatum in Kraft tritt.
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