Kultgegenstände wie sie im buddhistischen Tempel während einer Puja (Gottesdienst) in Anwesenheit der Kumari verwendet werden
Langsam öffnet sie die Augen und plötzlich entdeckt sie in einem kleinen silbrigen Bild: die Kumari! So nah hat sie sie noch nie gesehen. Vor Erstaunen öffnet sie den Mund – und der rote Mund der Kumari auf dem Bild da vor ihr öffnet sich auch. Und als sie die Augen aufreißt, werden auch die Augen der Kumari mit der schwarzen Ummalung ganz groß. Jetzt weiß sie, dass es wahr ist, was der Baa ihr gesagt hat und auch Durga-didi – sie ist selbst die Kumari!
Die lebende Göttin muss an die andere Kumari denken, die sie am letzten Indra Jatra-Fest gesehen hat. Und es fällt ihr das Mädchen ein, dem man gestern auf dem Thron die Ketten abgenommen hat. Aber sie denkt nicht darüber nach, weshalb dieses Mädchen keine Kumari mehr ist.
Auch sie wird einmal in einem goldenen Wagen durch die Stadt gezogen. Der König wird ihr Münzen zuwerfen und die Menschen werden ihr zujubeln. „Wir alle verehren dich, weil du etwas ganz Besonderes bist“, hat Durga-didi gesagt. Sie freut sich so, wie sonst, wenn sie eine neue Puppe bekommen oder ihr Baa eine Tüte leckerer Cashewnüsse mitgebracht hat. Sie will nachher unbedingt die Durga-didi fragen, ob sie mit ihr auf dem goldenen Wagen mitfahren wird.
Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben verspürt Amita jenes Glücksgefühl, das ihr der Astrologe schon kurz nach der Geburt als bestimmendes Lebensgefühl prophezeit hatte. Zum ersten Mal aber empfindet sie es, ohne dass ihre Mutter in der Nähe ist. Vor allem aber wird sie dieses Gefühl heute mit einer Person teilen, die sie noch gestern gar nicht gekannt hat – mit jener Frau, die sie Durga-didi nennt.
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Die Großmutter hat sich mit Anita auf das Bett gesetzt und spielt mit ihr und den beiden Puppen. Das hat sie bisher noch nie getan. Sie aber will nicht, dass Anita nach nebenan zu ihrer Mutter geht und sie dort weinen sieht.
Die ältere Frau ist noch immer sehr überrascht, dass ihre Tochter Mimita auf diese Weise reagiert. Hatte sie doch in den letzten Wochen allen im Haus das Gefühl vermittelt, sehr glücklich darüber zu sein, dass die Wahl der Taleju auf Amita gefallen ist. Konnte sie sich in Mimita so sehr täuschen?
Während sie ihrer Enkelin vorspielt, dass sie eine der Puppen in den Schlaf wiegt, überstürzen sich ihre Gedanken. Wie hätte sie denn seinerzeit reagiert, wenn man von ihr verlangt hätte, eine ihrer Töchter als Kumari wegzugeben? Wäre es ihr schwer gefallen? Nun hatte sie allerdings vier Kinder, sodass die Zurückgebliebenen nicht so allein gewesen wären wie jetzt die kleine Anita. Wie wird es wohl ihrer Enkelin im Kumari Bahal ergehen – an diesem ersten Tag als lebende Göttin, der zudem auch noch ihr Geburtstag ist? Ob deren Gedanken in diesem Moment wohl bei der Familie sind? Oder ob die neuen Einflüsse dort so gewaltig auf das Mädchen einwirken, dass solche Überlegungen gar nicht erst aufkommen?
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Die göttlichen Energien der Göttin Vajra Devi haben seinen gesamten Körper zum Zittern gebracht. Der buddhistische Oberpriester muss regelrecht physische Kraft aufwenden, um dem Mädchen diese Energie mit dem Yantra einzupflanzen. Immer wieder richtet er die Spitze des tantrischen Werkzeugs auf die Brust des Mädchens, und unter lautem Ausstoßen mantrischer Verse verwandelt er das Kind in die göttliche Persönlichkeit der Kumari. Dann hängt er der kleinen Göttin die Blumen-Mala um den Hals und verstreut Reis um ihren Thron.
Völlig erschöpft tritt der Raj Guru schließlich einige Schritte zurück, lässt sich vom assistierenden Priester das Sinhamu reichen – das reichlich verzierte silberne Gefäß, in dem sich zinnoberrotes heiliges Pulver befindet. Er taucht den Mittelfinger der rechten Hand in den Sinhamu und drückt der nun göttlichen Jungfrau die Tika auf die Stirn. Dann fällt der alte Mann vor seiner Kumari auf die Knie.
Sie weiß nicht, warum der alte Mann vorhin so geschrien hat… und auch nicht, warum er jetzt vor ihr kniet. Aber sie weiß, dass man es Tika nennt, wenn man einen roten Punkt auf die Stirn bekommt. Das hat Baa bei Ma auch immer so gemacht und auch bei ihr und bei Anita…
Und weil der alte Mann immer noch vor ihr kniet und weil es so aussieht, als ob ihr der Mann das rote Pulver hinhält, steckt sie einen Finger hinein und malt auch ihm eine Tika auf die Stirn. Plötzlich – ein riesiger Schreck. Der alte Mann hat sich ganz tief zu ihren Füßen gebeugt, und jetzt küsst er sie sogar. So wie Durga-didi vorhin. Aber das war ja nur Spaß…
Der Raj Guru glaubt, das unverkennbare, ruckartige Zeichen verspürt zu haben, mit dem sich die Göttin Vajra Devi endgültig im Körper des Mädchens manifestiert hat. Der heilige Mann ist fest davon überzeugt, eine wichtige Arbeit geleistet zu haben – für das Tal, das Land und den Planeten. Diese Arbeit hat den Raj Guru zwar körperlich erschöpft, aber auch ausgefüllt mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.
Als ihr die Opfergaben gereicht werden, greift die Mädchengöttin mit beiden Händen zu. Gierig stopft sie den Linsenkuchen in den kleinen Mund, nimmt Stücke vom getrockneten Fisch und Schnitze eines geschälten Apfels. Zwischendurch spült sie die Speisen mit Milch hinunter. Nicht ohne Wohlwollen beobachtet der Raj Guru, wie seine Opfergaben von der Kumari auf geradezu genussvolle Weise angenommen werden. Und er empfindet eine große Freude, als sie auch zu den weißen, gebrannten Reisflocken greift, die für „die Reinheit der Herzen“ stehen.
Der Priester in der roten Robe des Elementes Feuer, der dem Raj Guru während der Puja assistiert hatte, öffnet die beiden Flügel der Tür. Die schräg in den Hof des Kumari Bahal einfallenden Strahlen der Mittagssonne fallen auf die Schwelle hinter der Durga wartet. Als das Mädchen sie entdeckt, läuft es auf seine Freundin zu und lässt sich von ihr mit einem Schwung auf den Arm nehmen.
Stunden nachdem der Raj Guru den Agam betreten hatte, tritt das Oberhaupt der newarischen Buddhisten nun hinaus in die Helle des Tages. Neben der frisch geweihten Kumari blickt er hinauf in den wolkenlosen Himmel. Er weiß, dies ist nicht nur der erste Tag des Herbstes – es ist auch der Beginn einer neuen Ära.
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