Der Haupteingang zum Hof des Kumari Bahal – darüber das Bildnis der vielarmigen Göttin Durga
Detailansicht: die vielarmige Göttin Durga
Die künftige Kumari springt vor ihren Eltern die schmale Treppe hinauf. Das Mädchen kennt das verwinkelte Haus ja bereits vom letzen Besuch. Diesmal aber wird ihr auch der Eintritt in den geräumigen Thronsaal in der oberen Etage gewährt.
Dieser Raum hier ist viel höher als bei ihr zu Hause, wo sich die Besucher an der Tür immer den Kopf anstoßen, obwohl ihnen ihr Baa sagt, sie sollen aufpassen. Und viel größer ist er auch. Die drei Fenster sind so groß, dass sie fast vom Boden bis zur Decke reichen… aber trotzdem ist es hier ein wenig dunkel.
Zielstrebig geht Amita auf den kleinen roten Thron mit den Löwenbeinen zu. Im Volksmund wird er auch Löwenthron genannt. Er dominiert den Saal allein schon durch seinen Standort in der Mitte des Raumes und dem darüber aufgespannten roten Baldachin mit den goldenen Fransen.
„Da wirst du künftig sitzen“, sagt der Chitaidar.
Amita hatte ihn sofort als jenen Mann wiedererkannt, der mit ihr und ihrem Vater unlängst im Königspalast war. Doch als Amita auf den Thron klettern will, wird sie von ihm daran gehindert.
Wann aber darf sie denn dort sitzen? Der Mann hat gesagt, er will sich erst ein wenig mit ihr unterhalten, damit sie sich besser kennen lernen. Aber sie kennt den Mann doch schon! Und als sie ihm das gesagt hat, haben alle gelacht… Warum sehen sich denn alle so komisch an? Sie hat sich doch nur auf Mas Schoß gesetzt und gefragt, wann sie wieder nach Hause gehen. Ma sagt, dass hier ganz viele Menschen herkommen werden, um sie zu besuchen. Deshalb muss sie auch immer hier sein… Die Menschen werden alle ganz lieb zu ihr sein und sie verehren, weil sie ganz, ganz wichtig für diese Leute sein wird. Aber warum sie so wichtig für diese Leute sein wird, das hat Ma nicht gesagt.
Noch hat Amita die junge hübsche Frau nicht entdeckt, die sie aufmerksam von einer Ecke des Raumes aus beobachtet. Sie ist die unverheiratete Tochter des Chitaidar-Paares, und nichts passt weniger zu dieser freundlichen Person, als ihr Name: Durga.
Sie ist fasziniert – von der Anmut des kleinen Mädchens, seinem natürlichen Lachen und dem zierlichen schmächtigen Körper. Die neue Kumari, so scheint es, ist ein verletzliches Wesen, das eines ganz besonderen Schutzes bedarf.
Durga ist in einem Alter, in dem Nepalesinnen ihre ersten Kinder gebären. Und noch bevor sie mit der neuen Kumari einen Satz wechseln konnte, hat sie an sich ein heftig einsetzendes Gefühl registriert, für das der Begriff „Zuneigung“ zu wenig wäre. Das sensible Kind dort, das spürt sie, wird sie brauchen, um sich in diesem Palast zu Hause zu fühlen und seiner göttlichen Aufgabe nachkommen zu können. Durga ist entschlossen, der Göttin eine ergebene Dienerin und dem Mädchen eine schwesterliche Freundin zu sein.
Die junge Frau in der Ecke dort kommt ihr bekannt vor. Aber sie weiß, dass sie sie noch nie gesehen hat. Sie lächelt die fremde Frau an und die fremde Frau lächelt zurück.
Niemandem im Raum ist der kurze Blickwechsel zwischen den beiden entgangen, jener emotional aufgeladene Augenblick, in dem sich eine stumme Adoption vollzog. Dabei ist keineswegs sicher, ob Durga sich darüber im Klaren ist, dass sie in diesem Moment auch für ihr eigenes Schicksal eine entscheidende Weiche gestellt hat. Zumindest im nächsten Jahrzehnt wird sie unverheiratet bleiben müssen – denn kein Ehemann würde akzeptieren, dass seine Frau das Bett nicht mit ihm, sondern mit der Kumari teilt. Aber auch keinem Mann zuliebe würde Durga den Dienst für die lebende Göttin aufgeben. Eine Herausforderung, die sie angesichts der kleinen Amita in ungewohnte Erregung versetzt.
Sie freut sich, weil diese Frau auf sie zukommt. Sie kennt diese Frau nicht, aber sie spürt, dass sie nett zu ihr sein wird. Und als die Frau sie an die Hand nimmt, rutscht sie von Mas Schoß und geht mit ihr mit.
Mimita Shakya spürt einen Schmerz, als ob ihr das Herz von einem Ring zusammengeschnürt wird. Sollte sie nicht froh sein, dass ihre Tochter jener Frau so vertrauensvoll folgt, die doch in den nächsten Jahren eine wichtige Person im Leben von Amita sein wird? Doch es setzt sich das mütterliche Gefühl der Trauer durch, darüber, dass sich für Amita der Wechsel offenbar ohne jeden Abschiedsschmerz vollzieht. Dann aber macht sich Mimita Shakya klar, dass das Kind die Dimension des Ereignisses ja im Moment noch gar nicht begreifen kann.
Das rote Kleid mit den goldenen Fäden dort ist wunderschön. Und auf einem Tisch steht die goldene Krone der Kumari mit ganz vielen bunten Steinen. Die fremde Frau sagt, dass die Krone „Mukut“ heißt. Und schon bald darf sie diese Mukut aufsetzen.
„Das Kleid aber darfst du schon jetzt anziehen“, sagt die Frau und Amita ruft: „Ohhh!!!“
*
Im Vorraum des Aadhyro Kotha hat die Frau des Mul Pujari gemeinsam mit ihrem Sohn Uddav und einem Dutzend weiterer Taleju-Priester bereits die Shagun, jene als „heiliges Essen“ bezeichneten Opfergaben, aufgebaut, die der Kumari während der Durga-Puja gereicht werden. Der königliche Oberpriester ist gekommen, um zu kontrollieren, ob alles in ausreichender Weise vorhanden ist. Denn selbst wenn die Mädchengöttin von vielen der Speisen nur wenig nehmen wird, so muss von allem genügend vorrätig sein, falls sie doch einen größeren Appetit entwickeln sollte. Außerdem wird die Göttin Durga heute Nacht erstmals in einer neuen Inkarnation erscheinen. Da sollten diesbezüglich keine unangenehmen Überraschungen passieren.
Uddav Karmacharya (Mul Pujari) – Hauptpriester im Taleju-Tempel (diesmal privat)
Die Bedeutung der tantrischen Opfergaben sind klar definiert und verschiedenen Gottheiten zugeordnet. Das Büffelfleisch steht natürlich für das Blutopfer, welches man der Durga bringt, jener furchtlosen Manifestation der Parvati. Und weil es auch für Parvatis Gatten Shiva eine solche personifizierte Manifestation gibt – den furchtlosen Bhairav nämlich –, muss auch ein Ziegenbock geopfert werden. Da es in Nepal aber mehr Büffel als Ziegenböcke gibt, begnügt man sich seit vielen Generationen damit, der Kumari das Ziegenfleisch in allegorischer Form als schwarze Bohnen zu reichen. Angeblich spenden gerade sie eine besonders starke Energie. Statt des Erpels, als weiteres Tieropfer einer weiteren Göttin, werden gekochte Enteneier serviert. Diese stammen zwar bekanntlich nicht vom Erpel, sondern von dessen weiblichen Pendant, gehören aber ohnehin zum Speiseplan der Mädchengöttin. Ob im Kuchen oder in anderen Speisen – wo immer Eier verwendet werden, stammen sie von der Ente, und das hat seinen Grund. Die Kumari darf nämlich nichts vom Huhn essen, weil das – nach Überzeugung der hinduistischen wie der buddhistischen Priesterschaft – zur geistigen Verwirrung führen würde. Zu dieser Erkenntnis ist man jedenfalls irgendwann einmal gekommen, und niemand vermag mehr zu sagen wann und warum.
Die einzelnen Opfergaben werden durch schmale Ingwerstreifen voneinander getrennt, die sie wie eine Mauer schützen, um deren spirituelle Energie zu erhalten. Ganz oben auf der tantrischen Tafel liegt dann noch gerösteter Fisch, der Lakshmi symbolisiert – die Göttin des Wohlstands. Und um alle diese Götter glücklich zu machen, werden als Beilagen Linsenkuchen, Fladenbrot und Flockenreis serviert.
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