Zu einer tantrischen Puja aber gehört auch jenes „heilige Wasser“, das vielfach als „Geschenk der Götter“ bezeichnet wird. Dieses heilige Wasser wird in drei verschiedenen Varianten ausgeschenkt, die ihrerseits unterschiedliche Bedeutungen und allesamt eine berauschende Wirkung haben. Nacheinander werden der Mädchengöttin Rato Rakshi (ein roter Schnaps), Jhaand (weißes Reisbier) und Ela (ein hochprozentiger Reiswein) gereicht. Die drei alkoholischen Getränke stehen ihrerseits für das Blut der Tieropfer, die Milch heiliger Kühe und im Übrigen schlichtweg für die Unsterblichkeit.
Der Mul Purohit ist mit den Vorbereitungen für die erste Durga-Puja der neuen Mädchengöttin sehr zufrieden. Gleich wird er hinübergehen in den Kumari Bahal, um dort die zeremonielle Übergabe der Yantra, der Kumari-Kette, von der alten auf die neue Mädchengöttin vorzunehmen. Es erfüllt den Oberpriester des Königs mit einem Gefühl der Zufriedenheit, dass nämlich er, dem man die Teilnahme an der nächtlichen Durga-Puja verwehrt, schon vorher diese Insignien der göttlichen Macht weitergeben darf. Ihm obliegt es, die kleine Göttin auf diese Weise willkommen zu heißen und sie damit überhaupt erst in jenen Stand zu setzen, der ihr Einlass in den dunklen Tempelraum des Aadhyro Kotha verschafft. Der Mul Purohit verneigt sich nach allen Seiten und macht sich auf den Weg.
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„Du hast wunderschönes Haar!“, sagt Durga, nachdem sie Amitas Zöpfe gelöst und damit begonnen hat, das lange schwarze Haar mit einer Bürste durchzukämmen. Sie geht dabei sehr behutsam vor. Niemals könnte sie sich verzeihen, der Kumari Schmerz zugefügt zu haben. Auch wenn Amita noch gar nicht die Kumari ist. Das nämlich ist im Moment noch Rasmila.
Durga muss daran denken, dass das Mädchen, mit dem sie die letzten Jahre das Bett geteilt hat, jetzt ein Stockwerk tiefer vor sich hin stiert und stumm auf seine Ablösung wartet. Durgas Vater, der Chitaidar, hatte Rasmila erst an diesem Morgen auf nicht sehr behutsame Weise mitgeteilt, dass dies ihr letzter Tag im Kumari Bahal sein wird. Als Durga kurz darauf zu ihr kam, begegnete sie nicht etwa einem traurigen Mädchen – vielmehr wirkte die Kumari gleichermaßen fassungslos wie verängstigt. Sie hatte sich offensichtlich entschlossen, mit niemandem mehr zu sprechen. Auch mit Durga nicht, die bisher ihre Dienerin und Freundin war. Dabei hatte gerade sie in den letzten Monaten immer wieder den Versuch unternommen, die Kumari auf ihre baldige Ablösung vorzubereiten. Durga hatte ihr von der Familie erzählt, in deren Haus sie „irgendwann einmal“ zurückkehren würde. Und während sie der Kumari Unterricht in Lesen, Schreiben und den Grundrechenarten erteilte, hatte sie ihr von deren klugen Schwester berichtet. Sie hatte erzählt, dass sie Pramila heißt und Mathematik studiert. Sie würde ihr, „wenn sie mal nicht mehr hier wohnen wird“, sicher helfen, eine gute Schülerin zu werden. Die Kumari aber hat diese Signale offenbar nicht zur Kenntnis genommen.
Während Durga noch einmal die letzten Wochen vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lässt, bürstet sie in gleichmäßigen Bahnen das lange Haar jenes Mädchens, welches in wenigen Stunden Rasmilas Nachfolgerin werden wird.
Es ist schön, wie diese Frau, die Durga heißt, aber die sie Durga-didi (Durga – große Schwester) nennen darf, das Haar bürstet. Es tut überhaupt nicht weh. Und wenn man die Augen zu macht, ist es sogar noch schöner. Durga-didi hat gesagt, dass sie das jetzt jeden Morgen machen will. Was wird wohl Ma dazu sagen, wenn man nun jeden Tag hierher fahren muss? Aber hat Ma nicht gesagt, dass sie jetzt hier wohnen soll?
Durga empfindet es als einen wahrhaft erregenden Vorgang, daran mitzuwirken, aus diesem kleinen, anmutigen Mädchen eine lebende Göttin zu machen. Auch wenn die Vergöttlichung selbst natürlich in der Hand der Priesterschaft liegt, so bereitet sie doch das Mädchen zumindest äußerlich darauf vor. Mit einem Blick kontrolliert Durga noch einmal, ob alles dafür bereit liegt – das Öl, mit welchem sie das Haar einreiben, das rote Tuch, mit dem sie es zu einem Knoten hochstecken wird. Und die Schminkutensilien, mit denen sie später, vor dem nächtlichen Gang zum Taleju-Tempel, das kindliche Gesicht in ein göttliches Antlitz verwandeln wird. Jeder Handgriff ist eingeübt, war in der Vergangenheit schon hunderte Male bei Rasmila erfolgt, seit Durga vor einigen Jahren die Betreuung der Kumari von ihrer Mutter übernommen hatte. Ambika und Sita, ihre beiden älteren Schwestern, hatten sich schon früh entschieden, eine eigene Familie zu gründen. Durga aber hat es nie bereut, sich in den Dienst der Dyo Maiju, der Mädchengöttin, gestellt zu haben. Und als sie heute die künftige Kumari, dieses fröhliche und verletzlich wirkende kleine Mädchen gesehen hat, fand sie wieder einmal bestätigt, dass ihr Platz an deren Seite ist.
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Über Nepals Hauptstadt ist bereits die Dunkelheit hereingebrochen. Aber noch immer sind die Straßen sehr belebt, an diesem Astami, dem achten Tag des – nach Indra Jatra – zweitwichtigsten religiösen Festes. Die Stufen der gewaltigen, dreihundert Jahre alten Maju-Deval-Pagode auf dem Durbar-Platz sind an diesem Abend Treffpunkt der Jugend von Kathmandu. Die Teenager in Bluejeans und T-Shirts mit den aufgedruckten Fotos internationaler Popstars unterscheiden sich äußerlich kaum von ihren Altergenossen am Times Square oder dem Piccadilly Circus. Nur wenige Meter entfernt, stellt sich das traditionelle Nepal in Reih und Glied an, um in den Kumari Bahal eingelassen zu werden. Und gelegentlich mischen sich diese beiden Gruppen. Wenn die Besucher im Hof des Kumari-Hauses ihre Schuhe ausziehen, so ist manche Reebok-Kopie darunter, abgestellt von jungen Männern, die sich die Ray-Ban-Sonnenbrille aus chinesischer Produktion lässig ins gegelte Haar hochgeschoben haben. Niemandem von ihnen wird die Kumari heute eine Tika auf die Stirn drücken, und niemand ist mit dieser Absicht hergekommen. Sie wissen, dass sie in dieser Nacht eine neue Kumari bekommen und stellen im Hof unter deren Fenster ihre Opfergaben nieder. Und niemand kann sagen, ob es die letzten Opfergaben der scheidenden oder die ersten der neuen Mädchengöttin sind.
Einige der Besucher haben aber auch ein ganz anderes Ziel. Wie in jedem Jahr an Astami sitzen nämlich im Stockwerk unter dem Thronsaal acht lebende Kopien der königlichen Kumari. Diese werden Gan-Kumaris genannt – kindliche Göttinnen für einen Tag. Es heißt, sie würden gemeinsam mit der Taleju die insgesamt neun Hausgöttinnen der einstigen Malla-Könige repräsentieren. Kaum jemand in Kathmandu aber kennt sämtliche Namen dieser neun Göttinnen. Ähnlich wie es vielen Bewohnern der christlichen Länder Schwierigkeiten bereiten dürfte, die Namen aller zwölf Apostel zu nennen. Vielfach aber werden die Gan-Kumaris auch als Verkörperung der acht verschiedenen Aspekte der Göttin Durga angesehen. Doch sie dürfen die königliche Kumari nicht zu Gesicht bekommen. Die offizielle Begründung dafür lautet, dass jenes dritte Auge, das auch jeder Gan-Kumari auf die Stirn geschminkt worden ist, niemals in das der Kumari blicken dürfe. Ansonsten würde deren göttlicher Blick verloren gehen.
Die acht Shakya-Mädchen werden im ersten Stock des Kumari Bahal gemeinsam zu Tagesgöttinnen geweiht. Viele Familien sind stolz, wenn die eigene Tochter, Enkelin oder Cousine auf einem der Throne für die Gan-Kumari Platz nehmen darf. Anschließend werden sie von ihrem Vater oder einem anderen männlichen Familienmitglied zum Taleju-Tempel hinübergetragen, wo sie von Priestern in einer eigenen Puja verehrt werden.
Die kleinen Tagesgöttinnen und ihre Familien wissen nicht, dass mancher der Priester heute lieber nicht die Puja der Gan-Kumaris zelebrieren würde. Denn keiner, der hierfür eingeteilt ist, darf in der Nacht auch noch an der Durga-Puja im Aadhyro Kotha teilnehmen – an dem sich dort vollziehenden spirituellen Erlebnis einer transzendenten Vermischung des Menschlichen mit dem Göttlichen.
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