Beinahe lautlos verlässt die kleine Gruppe das weitläufige Areal des Taleju-Tempels. Die neue Kumari sitzt in einer roten Sänfte, die von vier kräftigen Männern getragen wird. Der Kopf der kleinen Mädchengöttin vermag die gewaltige Mukut kaum zu tragen, weshalb die beiden Frauen nun neben der Sänfte hergehen, um sie festzuhalten. Der ältere Herr mit dem bunten Topi auf dem Kopf erhellt mit seiner Leuchtstoffröhre die eigenwillige Szenerie. Langsam bewegt sich die kleine Gruppe in Richtung Durbar-Platz. Vor der Taleju-Glocke bleibt sie stehen. Dreimal nun ertönen deren dumpfe Schläge. Einige zufällig vorbeikommende Passanten rufen angesichts des sehr kleinen Mädchens eher erstaunt als ehrfurchtsvoll: „Dyo Maiju!“
Das Erste, was Amitas Eltern wahrnehmen, ist ein kleiner Lichtschein am Boden. Schon der dreimalige Schlag der Taleju-Glocke und die Rufe der Passanten haben ihnen das Erscheinen der neuen Kumari angekündigt. Nun ist sie selbst zu sehen, aufrecht in der Sänfte sitzend, flankiert von den zwei ernst dreinblickenden Frauen im roten Sari mit breitem weißen Schal, die sie vorhin über die Stoffbahnen geführt haben. Ist das etwa ihre Tochter Amita? Diese kleine, energisch geradeaus blickende Person mit der riesigen Mukut auf dem Kopf, dem gold umrandeten roten Dreieck und dem dritten Auge auf der Stirn ist ohne jeden Zweifel die zur Mädchengöttin inkarnierte Taleju.
Plötzlich springt Mimita Shakya auf, wird aber im nächsten Moment von ihrem Mann wieder zurückgezogen. Es ist kurz nach Mitternacht an diesem Navami des Jahres 1111 des newarischen Kalenders, dem dritten Geburtstag jenes Mädchens, das bis gestern Amita Shakya hieß. Dieser Name aber wird für Jahre getilgt sein. Schon bald wird sie ihn vergessen haben, und selbst wenn ihre Eltern sie im Kumari Bahal besuchen, werden sie sich vor ihr verneigen und sie Dyo Maiju nennen.
Amita am Tag ihrer Inthronisation als Kumari – noch muss die schwere Krone festgehalten werden
Im Agam führe ich der Kumari durch ein tantrisches Ritual die göttliche Energie in den Körper. Ich benutze dazu ein Werkzeug, das Yantra heißt, eine Art Donnerkeil mit magischer Kraft. Mit den Mantra-Sprüchen aus dem „Zeitalter der Wahrheit“ nehme ich mit der Göttin Vajra Devi den Kontakt auf und führe sie mit dem Mädchen zusammen.
Puspa Ratna Vajracharya Raj Guru – Oberhaupt der Pancha-Buddha-Priester
Der Raj Guru hat Ihnen alles erzählt – das ist seine Entscheidung. So weit will ich nicht gehen. Denn wenn ich alles erzählen würde, gäbe es kein Geheimnis mehr. Die Puja der Pancha Buddha-Priester unterscheidet sich aber komplett von der unseren.
Uddav Karmacharya Mul Pujari – hinduistischer Hauptpriester im Taleju-Tempel
Die Kumari schläft sehr unruhig. Immer wieder wälzt sie sich von einer Seite zur anderen. Manchmal schnauft sie nur tief, oftmals aber wimmert sie leise. Durga, die wach neben ihr liegt, weiß, dass der Übergang von der kindlichen zur göttlichen Existenz nicht konfliktfrei vor sich geht. Das war damals bei Rasmila auch nicht anders. Wenngleich sie das nur vom Hörensagen kennt, denn als die kleine Rasmila in den Kumari Bahal gekommen war, war sie ja selbst noch ein Mädchen gewesen.
Kaum hörbar beginnt die Kumari zu sprechen, murmelt eher unverständliche Worte. Offenbar durchlebt die Mädchengöttin in diesem Moment heftige Träume.
Überall Blut und Tiere ohne Köpfe. Riesige Augen in den abgeschlagenen Köpfen der Büffel und Ziegen starren sie an. Plötzlich taucht der Metzger auf, der seinen Laden gleich neben dem Haus hat, wo sie mit Ma und Baa und Anita wohnt. Der kleine dicke Mann hat den Kopf einer Ziege in der Hand. Dabei lacht er ganz laut. Sie hört Baas Stimme: „Wenn die Tiere tot sind, können sie dir nichts tun! Du musst keine Angst haben.“ Sie hat auch gar keine Angst, und das will sie ihrem Baa sagen. Doch als sie sich zu dem Tor vor dem großen Tempel umdreht, ist Baa nicht mehr da. Und Ma auch nicht. Nur ihre neue Freundin, die Durga-didi, steht dort…
Auf der dünnen weißen Gardine vor dem vergitterten unverglasten Fenster brechen sich die roten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zwischen dem nahen Durbar-Platz und der entfernteren New Road erwacht bereits der Verkehr. Das Knattern der Motorräder und das Klingeln der Rikscha-Fahrer dringt bis hinauf in den Khopi, dem Schlafraum der Mädchengöttin. Aus den Morgennachrichten erfahren die Menschen im erwachenden Kathmandu, dass das kleine Himalaja-Königreich eine neue Kumari hat.
Noch kann Durga die kleine Göttin neben sich ein wenig schlafen lassen. Der Tag wird ohnehin lang und aufregend für das Mädchen werden. Nach der nächtlichen Durga-Puja wird es am Vormittag in dem dunklen Tempelraum ein Stockwerk tiefer eine weitere, diesmal buddhistische Zeremonie geben. Dem folgt die Kumari-Puja oben im Thronsaal, wie sie künftig zweimal am Tag zelebriert werden wird. Danach wird die neue Kumari bereits ausgewählte Gläubige empfangen und von ihrem Thron aus segnen. Und dann hat die Kumari heute auch noch Geburtstag. Bei einem kleinen Fest am späteren Nachmittag soll sie die anderen Kinder kennen lernen, die im Kumari Bahal leben. Durga ist sicher, dass die Kumari sich mit den Kindern ihrer beiden Brüder verstehen wird.
Eine schwarz gekleidete Frau hat ihr das schöne rote Kleid weggenommen. Jetzt hat sie gar nichts mehr an. Ein Mann in einem roten Anzug gießt aus einer komischen Vase Wasser über sie, und sie fängt an zu frieren. Ein ganz alter Mann beugt sich zu ihr herunter. In der Hand hat er eine Rute mit langem Gras. Damit berührt er sie überall – auf dem Kopf und an den Schultern, am Bauch und zwischen den Beinen. Die ganze Zeit murmelt er irgendetwas in einer Sprache, die sie nicht versteht. Was wollen denn alle diese fremden Menschen von ihr?
*
Noch vor dem Sonnenaufgang hatte der Raj Guru, das religiöse Oberhaupt der newarisch-buddhistischen Priesterkaste, jenen Raum im Erdgeschoss des Kumari Bahal betreten, der Agam genannt wird. Nur wenige Stunden nach der Zeremonie seines hinduistischen Priesterkollegen drüben im Aadhyro Kotha, suchte auch er die Dunkelheit eines sakralen Raums, um mit seiner Göttin in Kontakt zu treten. Nur ist es in seinem Fall die Gottheit Vajra Devi. Bevor er sie aber in einem tantrischen Ritual anrufen kann, muss er den Platz, auf welchem er pünktlich um neun Uhr das Mädchen empfangen wird, spirituell reinigen. Und erst wenn es den Agam wieder verlässt, hat die Nation, aus Sicht des Raj Guru, eine neue Kumari – unabhängig davon, dass die hinduistischen Taleju-Priester ihre eigene Zeremonie schon in der Nacht zuvor durchgeführt und die Nachrichtensendungen dies bereits verkündet haben.
Auch in diesem dunklen Raum liegen überall die Köpfe von Büffeln herum, mit kleinen Flammen zwischen den Hörnern. Männer sitzen da und murmeln und schauen auf den Boden. Der alte Mann hebt ein Tuch hoch und darunter ist etwas, das sie nicht genau erkennen kann. Es sieht aus wie ein langes Schwert oder eine ganz dünne Frau oder… Dann wird das Tuch wieder darüber getan. Dauernd bietet man ihr etwas zu essen an. Und man hält ihr eine große Schale hin, die außen ganz hässlich aussieht, innen aber silbern glitzert. Als sie daraus trinkt, muss sie sich schütteln. Trotzdem wird ihr von dem Mann im roten Anzug die große Schale immer wieder an den Mund gehalten. Das Murmeln der Männer wird immer lauter und lauter, und die Köpfe der Büffel mit den Flammen fangen an zu fliegen. Sie fliegen durch den ganzen Raum und brüllen in dieser fremden Sprache, die sie nicht verstehen kann. Sie hält sich die Ohren zu, und dann schreit auch sie ganz laut.
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