Erschrocken ist Durga hochgefahren. Sie war noch einmal eingenickt. Hatte sie etwa geträumt oder hat die Kumari eben wirklich geschrien? Sie blickt das Kind neben sich an, das heftig atmet. Nach einer kleinen Weile aber wird der Atem ruhiger und plötzlich huscht der kleinen Göttin sogar ein Lächeln über das Gesicht. Leicht wiegt sie den Oberkörper hin und her.
Die ganze Welt um sie herum tanzt. Nicht nur die Menschen, auch die Häuser, die Tempel – einfach alles. Sie blickt von ihrem hohen Sitz auf die Leute herunter. Auf die starken Männer, die ihren Stuhl auf den Schultern tragen, und auf die Frauen, die sie festhalten, damit sie nicht herunterfällt, und auf Durga-didi, die vor ihr herläuft und sich manchmal zu ihr umdreht und lächelt. Plötzlich hört sie die Stimme ihrer Ma, wie sie sagt, dass alle es gut mir ihr meinen und sie ganz, ganz wichtig für diese Menschen sein wird. Aber diese Stimme ist weit weg, und sie weiß auch nicht, was das bedeutet, was Ma da sagt. Dann wird die Stimme immer leiser und sie kann Ma nirgendwo mehr sehen und Baa auch nicht. Aber sie hat keine Angst, denn Durga-didi ist ja da.
Als Durga der Kumari sanft über das schwarze Haar streicht, schlägt die Mädchengöttin die Augen auf und blickt sie ungläubig an.
„Guten Morgen, Dyo Maiju! Du hast geträumt, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht… ?!“
Noch sind die Augen der Kumari klein und verschlafen.
„Durga-didi!?“
„Ja, Dyo Maiju?“
Warum sagt sie Dyo Maiju? Hat sie ihren Namen vergessen? Was machen sie beide überhaupt hier… in diesem Raum… und in diesem Bett?
Die Kumari hat sich ruckartig aufgesetzt und blickt sichtlich irritiert im Zimmer umher.
„Wo ist denn Anita-didi?“
„Du suchst deine Schwester, wie!?“
„Wo ist sie denn?“
Die Dienerin der Kumari nimmt die kleine Göttin in den Arm und flüstert ihr ins Ohr: „Deine Anita-didi ist zu Hause bei deiner Ma und deinem Baa…“
„Können wir da jetzt auch hingehen?“
Durga Shakya – Amitas Dienerin im Kumari-Palast
Wortlos gießt Mimita Shakya den Tee auf. Seit dem Aufstehen haben sie und ihr Mann nur wenige Worte gewechselt, und über Amita haben sie überhaupt nicht gesprochen. Niemand im Haus hat an diesem Morgen über Amita gesprochen – die Großmutter nicht, keiner von ihren beiden jüngeren Brüdern, die in der obersten Etage wohnen, und selbst Anita verhält sich ungewöhnlich zurückhaltend. Man spielt einander eine Normalität vor, die (noch) keine Normalität ist.
Mimita schenkt ihrem Mann Tee ein, stellt Fladenbrot auf den Tisch und schält einen Apfel. Sie funktioniert – und sie leidet. Sie wird von einem Gefühl gequält, als ob ihrem Körper etwas amputiert worden ist. Der Phantomschmerz ist fast unerträglich. Sie weiß, dass natürlich jeder hier an Amita denkt. Und dies ist auch der Grund, weshalb diese gespenstische Stille herrscht, die kaum auszuhalten ist.
Erstmalig ist Amrit froh, dass sich sein Arbeitgeber – eine Unterorganisation der UN-Vertretung drüben in Patan – nur bedingt um nationale Feiertage kümmert und er auch an den Festtagen des Dashain den Bus fahren muss. Noch im letzten Jahr hatte er bedauert, am Geburtstag seiner Tochter nicht zu Hause sein zu können. Heute, so hofft er, würde ihn seine Tätigkeit wenigstens ein paar Stunden auf andere Gedanken bringen. Vorerst aber macht er sich Sorgen um Amitas Ernäherung. Er weiß, dass die Kumari vor der morgendlichen Puja nicht essen darf. Aber ein kleines Mädchen muss doch ein Frühstück bekommen. Überhaupt muss es regelmäßig essen. Warum nur hat er darüber nicht mit dem Chitaidar gesprochen?
Anita versteht nicht, warum alle an diesem Morgen schweigen. Sie spürt diese seltsame Atmosphäre und fühlt sich unbehaglich. Wenn jetzt Amita-bahini (Amita – jüngere Schwester) da wäre, könnten sie sich hier in der Küche in einer der Ecke setzen und spielen. Weil sie aber nicht ahnt, dass Amitas Abwesenheit der Grund für diese seltsame Stimmung ist, spricht sie aus, woran jeder denkt: „Warum ist denn Amita-bahini nicht da?“
Einen Moment erstarren alle Familienmitglieder. Mimita schießen Tränen in die Augen und sie läuft aus der Küche.
„Ich habe dir doch erklärt, dass deine Amita-bahini jetzt woanders wohnt. So, und jetzt muss Baa zur Arbeit“, sagt Amrit und verlässt ebenfalls den Raum.
Anita wundert sich, dass ihre Eltern vor ihr weglaufen. Als sie ihre Großmutter ansieht, macht diese ein freundliches Gesicht und fragt: „Willst du ein Glas Saft?“
Dies also ist der Augenblick, von dem Durga seit langem wusste, dass er unvermeidlich kommen würde. Immer wieder hat sie ihn gedanklich durchgespielt, und sie weiß auch, dass ihr nun ein argumentativer Spagat bevorsteht. Wie erklärt man einer lebenden Göttin, dass sie eine Göttin ist? Und wie vermittelt man ihr, dass sie einerseits eine unanfechtbare Autorität darstellt, sich andererseits aber gewissen Regeln unterwerfen muss? Zunächst mal gilt es, einem kleinen Mädchen beizubringen, dass es fortan in einem geweihten Palast wohnen wird, statt in jener vertrauten Umgebung, in der es gelebt hatte, ehe es eine Göttin wurde.
„Ich weiß, dass du etwas ganz Besonderes bist, Dyo Maiju…“, beginnt Durga zögernd.
„Aber ich heiße doch Amita…“
„Das weiß ich. Aber ich sage Dyo Maiju, weil ich dich verehre, und auch andere Leute werden das zu dir sagen. Und die Kinder, die hier mit dir spielen werden, werden dich Kumari-didi nennen. Wir alle verehren dich, weil du eben etwas ganz Außergewöhnliches bist.“
„Was denn?“
Das Mädchen sieht Durga erwartungsvoll mit seinen schwarzen, inzwischen wachen Augen an.
Leise beginnt Durga: „Das werden wir gemeinsam herausfinden. Ich weiß aber jetzt schon, dass die große Göttin Taleju, die auf unseren König aufpasst und auf das ganze Land, sich dieses kleine Mädchen ausgesucht hat, damit sie sich darin verstecken kann und keiner der Dämonen sie finden wird.“
Dabei piekt Durga bei jedem Halbsatz mit dem Zeigefinger ein wenig in den Bauch des Mädchens. Und weil das kitzelt, muss die Kumari kichern. Im nächsten Moment geht Durga vor ihr auf die Knie, und während sie weiterspricht, beugt sie den Kopf mehrfach bis hinunter zu Amitas kleinen Füßen.
„Und weil dieses kleine Mädchen überhaupt keine Angst kennt, verehren wir es und nennen es Dyo Maiju. Und weil dieses kleine Mädchen ein ganz besonderes Mädchen ist, werde ich ihm gleich die schönen langen Haare bürsten. Und weil dieses kleine Mädchen heute Geburtstag hat, gibt es später einen großen Kuchen!“
Nun sieht Durga in das überraschte Gesicht der Kumari und im nächsten Augenblick lachen sie beide los.
*
Auf einem kleinen Altar im Vorraum zum Agam sitzen fünf Buddha-Figuren, die von den Gläubigen Dhyani-Buddhas genannt werden. Sie gelten nach der Lehre des Vajrayana-Buddhismus als die „Schöpfer des Universums in verschiedenen Zeitaltern“.
Die Figuren, die nur wenige Zentimeter groß sind, unterscheiden sich farblich voneinander und auch durch die Stellungen ihrer Hände. An diesen beiden Merkmalen kann man deren inhaltliche Bedeutung ablesen.
Der grüne Buddha hat eine Hand in den Schoß gelegt, während er dem Betrachter die andere Handfläche entgegenhält. Er repräsentiert „die Wahrheit und das Wesentliche der Rede“.
Der Himmel steht für die Konzentration, und der blaue Buddha drückt dies dadurch aus, dass er eine Handfläche auf dem Knie und die andere im Schoß abgelegt hat. Das durch den roten Buddha versinnbildlichte Feuer steht für die Meditation, die allein dadurch „zur Unsterblichkeit führt, weil die Kraft der Ewigkeit im Körper spürbar wird“. Seine Hände hält der rote Buddha mit nach oben geöffneten Handflächen im Schoß.
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