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Im großen Saal in der zweiten Etage des Kumari Bahal hat mittlerweile die noch amtierende Mädchengöttin mit unbewegtem Gesicht auf dem Löwenthron Platz genommen. Sie ist jetzt zwölf und auf den Tag genau seit acht Jahren die königliche Kumari von Kathmandu. Heute Morgen hat ihr der Chitaidar nicht nur mitgeteilt, dass sie die rote Kleidung der Kumari nur noch vier Tage tragen dürfe, sondern auch, dass sie diese bereits im Haus ihrer Eltern verbringen wird.
Ihrer Eltern? Sind das etwa diese kleine rundliche Frau im grünen Sari dort drüben, die ihr ständig zunickt, und der Mann mit dem kurzen Schnurrbart neben ihr? Und wer ist das Mädchen mit der kreisrunden Brille? Ihre Schwester, die Studentin? Alle diese Leute gehören zu ihrer Familie. Denn die Frau dort, von der man ihr seit jeher sagt, sie sei ihre Ma, kennt sie vor allem als Schwester der Chitaidar. Deshalb sagt sie ja zur Chitaidar „Kaki“ (newarisch: Tante) und zum Chitaidar sagt sie „Kaka“ (newarisch: Onkel). Und da sind noch Durga-didi und ihre Schwestern – und die beiden Brüder von Durga-didi, die vor einiger Zeit geheiratet haben und seither mit ihren Familien in einem Flügel des Kumari Bahal wohnen. Drei Kinder sind während ihrer Kumari-Zeit hier geboren – Sourav und Gaurav und im letzten Monat die kleine Garima. Das ist ihre Familie!
Auf einem schmalen Hocker neben der Kumari sitzt Amita in dem neuen Kleid aus rotem und goldenem Brokat. Eigentlich lümmelt sie eher darauf, denn noch hat ihr niemand gezeigt, wie sich eine Göttin würdevoll verhält. Auch sonst hat sie, trotz der roten Kleidung, noch nichts von einer Göttin. Die Kleine wirkt auf ihre Eltern eher kostümiert.
Zwei Taleju-Priester murmeln die Mantras vor sich hin, jene seit vielen Generationen mündlich überlieferten heiligen Sprüche. Noch einmal verneigt sich der königliche Oberpriester vor jenem Mädchen, welches die vergangenen acht Jahre die königliche Kumari von Kathmandu war. Dann nimmt er ihr die grobgliedrige Kumari-Kette vom Hals und legt sie Amita um. Sofort beginnt das kleine Mädchen neugierig das schwere Schmuckstück, das immerhin die Macht der Göttin Taleju symbolisiert, zu untersuchen. Aufgeregt blickt sie zu ihren Eltern hinüber und beginnt mit dem Yantra zu spielen, jenem goldenen Anhänger in Form eines Donnerkeils, dem man eine magische Kraft nachsagt. Nun wird ihr auch die Nagmala um den Hals gelegt, jene hölzerne Schlange, deren Funktion der Schutz der künftigen Mädchengöttin vor der Macht der Dämonen ist.
Zwischen den Eltern der scheidenden und denen der neuen Kumari findet kein persönlicher Kontakt statt, wenngleich man sich aus den Augenwinkeln heraus beobachtet. Amitas Vater fällt auf, dass beide Elternpaare selbst für nepalesische Verhältnisse auffallend klein sind. Aber er verbindet diese Beobachtung nicht etwa mit der Frage, ob dahinter etwa ein Kalkül stecken könnte. Es käme dem tief gläubigen Amrit Man Shakya nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, ob der Chitaidar oder das Kumari-Komitee ganz profan nach besonders kleinen Kumari-Eltern Ausschau gehalten haben könnten – im Hinblick darauf, dass dann auch das Mädchen möglichst lange einen besonders kindlichen Eindruck machen würde. Jedenfalls fällt Amrit Man Shakya auf, dass auch der Vater der langjährigen Kumari nicht nur klein, sondern, wie er selbst, ausgesprochen schmächtig ist. Und es ist nicht zu übersehen, dass sich an seiner Frau bereits erste Anzeichen zu einer rundlichen Figur zeigen, wie sie bei jener Kumari-Mutter dort bereits ausgeprägt sind. Da dies aber hierzulande als Zeichen von Wohlstand gewertet wird, ist Amrit Man Shakya darauf sogar ein wenig stolz. Er weiß nicht, womit der Vater der nun scheidenden Kumari sein Geld verdient, um die Familie zu ernähren. Ihm aber ist es gelungen, mit dem Job als Busfahrer des nepalesischen UN-Quartiers sogar etwas Geld zur Seite zu legen, um in absehbarer Zeit am Stadtrand ein kleines Haus zu erwerben. Erst in diesem Moment fällt ihm ein, dass Amita am Ende ihrer Kumari-Zeit wohl nicht mehr dorthin zurückkehren wird, von wo sie an diesem Morgen gemeinsam aufgebrochen waren.
Amitas Mutter hingegen stellt sich die Frage, wer sich eigentlichen glücklicher schätzen darf: sie, deren Tochter gerade die göttlichen Insignien erhält, oder die Mutter jenes Mädchens, der in diesem Augenblick eine Tochter zurückgegeben wird?
Das Mädchen, das bis eben die königliche Kumari war, wird zu der kleinen rundlichen Frau und dem Mann mit dem Schnurrbart geführt. Gleich wird man sie in einer Sänfte zum Haus dieser ihr fremden Menschen tragen.
Amita aber ist noch immer eine Kumari auf Widerruf. In dieser „Schwarzen Nacht“ wird sich zeigen, ob sie sich des Kumari-Thrones als würdig erweist. Doch keiner der anwesenden Priester will das bevorstehende grausige Defilee, vorbei an den einhundertacht geköpften Tieren, als eine weitere Prüfung verstanden wissen. Niemand hier im Thronsaal hegt irgendeinen Zweifel daran, dass der Hofastrologe mit seiner Analyse richtig gelegen und die wahre Kumari gefunden hatte.
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Gegen 22 Uhr ist der Durbar-Platz wie leer gefegt. Die Jugendlichen sind um diese Uhrzeit – anders als ihre Altersgenossen in den westlichen Metropolen – längst zu Hause. Nur im benachbarten Stadtbezirk Thamel haben noch einige Bars geöffnet. Doch die Preise in den Etablissements des Touristenviertels, die „Full Moon“ oder „Via Via“ heißen, sind für die meisten einheimischen Teenager unbezahlbar.
In den Seitengassen westlich des Durbar-Platzes aber ertönt in dieser Feiertagsnacht überall noch Musik. Vor dem Kashtamandap, jener überdachten Plattform aus dem 14. Jahrhundert, dem Kathmandu seinen Namen verdankt, und wo sonst Gemüsehändlerinnen ihre Waren feilbieten und streunende Hunde Mittagsschlaf halten, haben Menschen verschiedener Kasten um eine Gruppe newarischer Musiker Platz genommen. Weiter nördlich, in der Nähe des Krishna-Tempels, wird in dieser Nacht eine riesige, mit Ziegenfell bespannte Trommel geschlagen, um die bösen Geister fernzuhalten. Denn immerhin ist es ja einst in der „Schwarzen Nacht“ gewesen, in welcher der Büffeldämon Mahisasura sein Unwesen trieb. Kaum jemand aber nimmt zur Kenntnis, wie sich neben dem Kumari Bahal eine kleine Tür öffnet und zunächst ein newarisches Musikanten-Trio, dann zwei Männer mit riesigen Stoffballen im Arm und schließlich die neue Kumari mit dem weiteren Gefolge erscheinen. Ein ernst blickender Mann mit einem bunten Topi auf dem Kopf hält eine große, von einem Akku gespeiste Neonröhre in die Höhe. Vor Amita werden bahnenweise Tücher entrollt, über die sie barfuß schreitet, an beiden Seiten von zwei Frauen an den Händen geführt. Sie haben dafür Sorge zu tragen, dass die – künftige – Mädchengöttin nicht strauchelt.
In dieser Nacht, das spüren alle in dieser kleinen Gruppe, ist das gesamte Universum in eine ganz besondere Stimmung getaucht. Noch hat die Göttin Taleju zwar nicht von jenem kleinen Mädchen Besitz ergriffen, das schon die Insignien der Göttlichkeit um den Hals trägt. Doch die Göttin hat die Aura dieses außerordentlich hübschen Kindes bereits erreicht, bereit sich in dieser Nacht mit ihr zu vereinen. Man befindet sich in dieser Twilight Zone, in dem sich das Potenzial großer Veränderungen formiert. Denn durch jede neue Kumari werden auch neue Energien mobilisiert.
Es ist aber auch die Zeit der Bilanzen. Und so werden in dieser Nacht von vielen Nepalesen, die weltweiten und nationalen Veränderungen der letzten Monate mit dem Wirken und Sein der nun scheidenden Kumari in Verbindung gebracht. Manch einer aus Amitas kleinem Gefolge mag sich die zwischen Hoffnung und Sorge angesiedelte Frage stellen, wie wohl in einigen Jahren die Bilanz dieser Kumari aussehen wird. Das Land jedenfalls, dessen Schutz sie heute Nacht übernehmen wird, gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, und es hätte dringend Veränderungen zum Guten nötig.
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