Der gelbe Buddha hingegen hat nur eine Hand geöffnet. Diese weist gleichermaßen auf ein Geben und Nehmen hin, denn der gelbe – oder auch goldene Buddha – wird mit dem Geld in Verbindung gebracht, welches der Reiche einnimmt, um es dann unter den Armen zu verteilen.
In der Mitte sitzt der weiße Buddha, der beide Handflächen nach außen gerichtet vor die Brust hält, was man leicht als abwehrende Geste fehlinterpretieren könnte. Doch soll ihn genau diese Geste als „Buddha der Reinheit und des Friedens“ auszeichnen, der zugleich „das Prinzip der Gleichheit“ repräsentiert.
Die fünf Dhyani-Buddhas gelten nach der Lehre des newarischen Vajrayana-Buddhismus als die „Schöpfer des Universums in verschiedenen Zeitaltern“
Puspa Ratna Bajracharya (Raj Guru) – Oberhaupt der Pancha Buddha Priester
Von Kindesbeinen an hat sich Durga für die Bedeutung und die Geschichte der fünf Dhyani-Buddhas interessiert. Eine besondere Faszination ging für sie dabei immer von der Herkunftslegende aus. Demnach seien die fünf Erleuchteten nicht etwa auf natürliche Weise in die Welt gekommen, sondern vielmehr vom Adi-Buddha erschaffen worden. Dieser Ur-Buddha wiederum habe sich sogar selbst erschaffen und sei beim Ausbruch eines infernalischen Feuers auf die Welt geschleudert worden. In der Vorstellung der kleinen Durga tauchte dabei immer ein Lava speiender Vulkan auf.
Der Funke der Begeisterung will nicht recht auf die Kumari überspringen, die in vollem Ornat und geschminkt, aber mit leerem Magen, neben Durga steht. Fühlt sich das kleine Mädchen durch die detaillierten Erläuterungen überfordert? Oder verschweigt eine wissende Göttin höflich, dass Durgas Ausführungen für sie keine nennenswerten neuen Informationen enthalten? Die Dienerin jedenfalls ist irritiert, als sie bemerkt, dass sich die Kumari schließlich mehr dafür interessiert, was sich unter dem bodenlangen Tuch befindet, mit dem der Altar abgedeckt ist. Deren Interesse an der Legende der Dhyani-Buddhas vermag Durga erst zu wecken, als sie ausführt, dass jedes der fünf göttergleichen Wesen ein eigenes Reittier hat.
Die Kleine ist zwar nicht sehr erstaunt darüber, dass der blaue und der gelbe Buddha auf einem Elefanten und einem Pferd reiten, dass die anderen sich jedoch auf einem Löwen, auf dem Vogelmenschen Garuda und sogar auf einem Pfau fortbewegen sollen, will sie kaum glauben.
„Der Buddha ist doch viel zu schwer für den kleinen Pfau“, sagt die Kumari.
Die gleichermaßen unbekümmerte wie nahe liegende Bemerkung aus dem Mund der lebenden Göttin bewirkt, dass erstmalig auch Durga Zweifel an der Richtigkeit der Legende kommen.
Die irdischen Vertreter der fünf Dhyani-Buddhas versehen ihren priesterlichen Dienst normalerweise in Alltagskleidung. Zur Feier des Tages aber tragen die fünf Pancha Buddha-Priester an diesem Morgen ihre bodenlangen Gewänder in den Farben jener Elemente, die sie verkörpern. Zudem haben sie ihre goldenen Kronen mit bunten Blumen geschmückt. Ein solches Ornat tragen die Pancha Buddha-Priester üblicherweise nur während der Indra Jatra-Prozessionen – und am Weihetag einer neuen Kumari.
In wenigen Minuten wird der Raj Guru das erwählte Mädchen empfangen, um ihr in einem aufwändigen tantrischen Ritual die göttlichen Kräfte der Vajra Devi einzupflanzen. Ihm wird dabei von einem der Pancha Buddha-Priester assistiert. Die drei anderen Priester werden zuvor den Agam verlassen. Vorerst aber benötigt der Raj Guru noch deren spirituelle Energie, um gemeinsam die Göttin anzurufen und ihre Kräfte zu empfangen. Kein leichtes Unterfangen, denn keiner von ihnen ist in der privilegierten Lage der Taleju-Priester, die jene spirituelle Tätigkeit hauptberuflich ausüben. Diese sind in der Situation, ihre gesamte Lebensenergie in den tantrischen Ritualen zu konzentrieren. Die Pancha Buddha-Priester aber haben nicht den Königspalast als Sponsor im Rücken, und so müssen sie neben dem Tempeldienst einem ganz normalen Broterwerb nachgehen. Mehrfach hat sich der Raj Guru im Kreis seiner Priesterkollegen darüber beklagt, dass seine Tätigkeit als Chef einer Firma für Elektroinstallationen derart viel von seiner Energie absorbiert, dass er ernsthaft den Verlust der tantrischen Fähigkeiten befürchtet. Fähigkeiten, die er sich in jahrelanger Übung unter Anleitung seines Vaters – des einstigen Raj Guru – erworben hat.
Im ansonsten dunklen Tempelraum brennt nur ein winziges Öllicht vor einer kleinen Stupa, jenem kuppelartigen Gebilde, in welchem heilige Reliquien aufbewahrt werden. Die buddhistischen Priester stehen nebeneinander und sprechen gemeinsam die alten Verse der Mantras. Für den Erfolg des tantrischen Rituals ist es unerlässlich, dass sie dabei in einen gemeinsamen Atemrhythmus kommen. Deshalb heben sie bei jeder Einatmung gemeinsam die Arme und halten dann den Atem kurz an, während sie fünfmal die Hände ruckartig in die Luft schleudern. Mit der langsamen Ausatmung senken sie die Arme wieder und sprechen dabei die mantrischen Texte. Es dauert lange, bis es den einzelnen Priestern gelingt, jegliche gedankliche Tätigkeit auszuschalten und das Ich aufs pure Gefühl zurückzuführen. Schließlich aber erreichen sie jene „spirituelle Einheit mit den göttlichen Kräften“. Ein Zustand, der von säkularen Interpreten profan als „Trance“ bezeichnet wird.
Die Tür öffnet sich ein wenig und durch einen schmalen Spalt verlassen die Priester den Agam. Stumm und mit zum Boden gerichteten Blick treten sie zur Seite, um der Mädchengöttin Platz zu machen.
Die Kumari spürt, wie Durga die Hand auf ihre Schulter legt und sie in den dunklen Tempelraum schiebt. Die Tür schließt sich hinter ihr und dem Mädchen fällt es schwer, sich zu orientieren. Ein paar Meter entfernt brennt ein einzelnes Öllicht. Schräg davor steht der Raj Guru, ein kleiner Mann, auf dessen Kopf die blumengeschmückte Krone überdimensional wirkt.
Das Mädchen wird von kräftigen Männerarmen, die überraschend aus der Dunkelheit auftauchen, hochgehoben und zu einem Sitzkissen getragen.
Die Blumen auf der Krone von diesem alten Mann sehen schön aus. Aber warum ist es denn so dunkel? Man kann die Krone ja gar nicht richtig sehen. Und warum ist Durga-didi nicht mitgekommen? „Ich warte hier draußen auf dich“, hat sie vorhin leise gesagt.
Die Kumari hat das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Die Arme, die sie einfach hochheben, der alte Mann, der vor einem brennenden Öllicht steht und in einer fremden Sprache murmelt. Aber sie erinnert sich nicht, dass sie erst in der letzten Nacht gleich zweimal eine vergleichbare Szene erlebte – während der nächtlichen Durga-Puja und in ihrem morgendlichen Traum.
Der gleichmäßige Singsang des buddhistischen Priesters gibt dem Mädchen das behagliche Gefühl eines In-sich-Ruhens. Ein Gefühl, welches den Körper schließlich ganz schwer werden lässt, wie man es oft kurz vor dem Einschlafen erlebt. Dabei ist sie gar nicht müde. Die Kumari schließt die Augen und genießt diese angenehme Stimmung.
Der Raj Guru spürt, dass sein Körper angefüllt ist mit der göttlichen Energie der Vajra Devi. In den Händen hält er nun den Jwala-nhyanka, jenen Spiegel mit dem silbernen Feuerkranz. Fast tonlos beginnend und dann immer lauter werdend, skandiert der alte Priester die magische Silbe „Om…!“, während er mit dem Finger über den Feuerkranz streicht. Dann greift er zu der Muschel mit dem geweihten Wasser, die ihm der assistierende Priester hinhält. Langsam lässt er das Wasser über den Spiegel laufen. Schließlich wendet er sich dem Mädchen zu und hält ihm den Spiegel direkt vor das Gesicht. Nun entdeckt er, wie sie mit geschlossenen Augen und hochkonzentriert vor ihm sitzt – ganz offensichtlich bereit, die göttliche Weihe in Empfang zu nehmen. Es ist ein erregender Augenblick für den Raj Guru. Denn er erkennt in diesem auffällig kleinen, auffallend schönen Mädchen, in dem vom Schein des Öllichts nur spärlich beleuchteten Gesicht, unverkennbar – die königliche Kumari.
Читать дальше