»Pardon … deine Frau … das kann Synästhesie sein. «
In der Nische stand ein hochgeschossener Mitte-Dreißiger. Über seinem Engelsgesicht fehlte etwas, die Haarpracht. Die schien ein wenig nach hinten heruntergerutscht zu sein. Vorn hatte sie sich im unteren Viertel der Stirn und ein bisschen auch unter der Nase einen neuen Platz gesucht.
»Synergetisches Empfindungsvermögen?«, reimte ich zusammen, schließlich hatte ich einmal studiert und konnte Eins plus Eins zusammenzählen.
»Es gibt Menschen, die riechen oder hören, was wir nur sehen. Ihre Nervenbahnen sind … wie sagt man deutsch … falsch verschaltet. «
Aha, ein Ausländer, registrierte ich wegen seines Akzentes, doch Ottmar blaffte ihn sofort an:
»Na, Herr Kollege, sagen Sie schon, dass sie verrückt ist!«
Der Mann hob abweisend eine Hand, während die andere ziemlich täppisch über sein haarloses Vorderhaupt glitt. .
»Es ist nicht Krankheit, ist psychologisch-neurologische Besonderheit. Trotzdem gut, wenn medizinisch abklären. Manchmal nur Halluzinationen. Verstehen? Kernspin-Tomographie vielleicht. «
Der Kerl mit den buschigen Augenbrauen hatte sich nicht vorgestellt und Ottmar dachte nicht daran, es nachzuholen. Vorsichtshalber reichte ich dem Hünen die Hand und bemühte mich, enttäuscht auszusehen, obwohl es mir stank, einen Mithörer gehabt zu haben.
»Sie erlebt es mit offenen Augen mitten am Tage«, sagte ich, was Ottmar veranlasste, seine alten Witze zu reißen:
»Hört sie vielleicht auch Stimmen die summen, statt Summen die stimmen? «
Ottmar kicherte. Irgendeine Erinnerung löste ein leises Schütteln in ihm aus und ich spürte, wie ungläubig er mich musterte. Ich wunderte mich das erste Mal, wie ich es seit Jahren mit solchen Freunden aushielt. Ich ignorierte ihn folgerichtig auch zum ersten Mal und wandte mich dem Hünen zu:
»Niemals bekomme ich Laila zu einem Psychologen.«
Noch ehe ich fragen konnte, ob man es nicht anders angehen könne, hob er die Schultern und blies seinen Knoblauch-Atem durch die Zähne.
»Ja dann …«
Für ihn schien die Sache erledigt, der Mann ging ohne Gruß, wie er gekommen war. Während ich noch überlegte, wie ich Ottmar und seinen Triebproblemen entgehen könne, stand der Hüne wieder in der Nische.
»Ich kenne da jemand. Komm nächstes Sonntag zu «Syrtaki», setzen mit Frau an Stammtisch und … lass uns machen. Okay?«
Sein Du machte die Sache wenigstens für mich ein wenig leichter, trotzdem wollte ich wissen: »Wer ist uns ?«
»Sie ist … wie sagt man … Landsleutin?«
»Landsmännin?«
Er klopfte mir sofort auf die Schulter, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, von Einheimischen nicht die richtige Aussage zu deren Muttersprache zu bekommen. »Versuche zu finden heraus, was Frau vermischt. Musik und Farben, Duft und Muster, Farben und Zahlen? Okay?«
Er rang sich ein Lächeln ab und ließ seine Zähne unter dem buschigen Schnauzbart blitzen, dann ging er. Endgültig.
Ottmar fuchtelte dem Hünen hinterher und schimpfte:
»Dieser Lalakakis mit seiner Bauernschläue. Lass dich bloß nicht auf diesen Griechen ein. Der mischt sich überall ein.«
»Ist doch besser als gar nichts«, gab ich meiner einzigen zu Fleisch gewordenen Hoffnung zu verstehen, was ich von seiner Hilfe hielt, wegen der ich mich hierher bewegt hatte. Von mehr enttäuschten Bekenntnissen über Ottmars Schläue hielt ich mich zurück, doch der gestikulierte weiter. Gut möglich, dass er meinen kritischen Einwand überhört hatte.
»Die alten Griechen dachten, das Gehirn dient ausschließlich der Abkühlung des Blutes. Irgendwie scheint es bei Lalakakis noch immer so zu sein«, wetterte er. »Farben für Zahlen? Ja bitte - Ich bin kein Synästhetiker, die Zahlen auf meinem Konto sind trotzdem rot.«
Es kümmerte mich nicht wirklich, ob Ottmar viel oder wenig Knete besaß. Vielmehr lag mir bisher die Zeit am Herzen. Das Einzige, was sich von Ottmars Schimpftirade in meinem Inneren verankert hatte war das Misstrauen gegen den Hünen – aber das dümpelte zu dieser Zeit noch als Kaulquappe im trüben Teich meiner Orientierungskrise.
Jetzt aber registrierte mein Kopf einen neuartigen Tumult unter meinem Brustbein, den meine egostarke Natur bisher als das Chaos eines Genies klassifiziert hatte. Mich zog es fort. Ich brauchte Zeit, um mir über dieses Synästhesie-Phänomen klar zu werden, das Laila zu etwas ganz Besonderem machte. Es muss genial sein, dachte ich. Hätte ich diese Gabe, würde mein kreatives Vermögen schon längst nicht mehr auf dem niederen Level herumdümpeln. Andererseits konnte Lailas Gabe auch eine Last sein. Wer will schon ständig unter Doppelfeuer stehen? Trägt Laila deshalb dauernd diese Kopfhörer? Und bisweilen die dunkle Brille?
»Hör mal, du musst dich mal für mich ins Zeug legen … bei Conny …«
Ein paar von Ottis Worten hatte ich während meiner geistigen Zeitreise noch aufgeschnappt, ehe ich, wer weiß wie, auf der Straße stand und nicht einmal wusste, ob ich mich von Ottmar verabschiedet hatte. Der winzige Strohhalm, den mir der Hüne zugeworfen hatte, reichte aus, in meinem Inneren eine Hochstimmung zu gebären, die sich kreißend vom obersten Schädelbereich abwärts schob auf den Weg zu den Mundwinkeln. Freundliche Menschen schienen in dieser Stadt keine Seltenheit zu sein, man grinste hundertfach zurück, als wünschte man mir Glück. Dabei war die neue Gewissheit weit davon entfernt, ein Quell purer Freude zu sein. Das aber wusste ich in diesem Moment noch nicht.
»Ein bisschen mehr Lebensfreude, meine Dame.«
Ich knuffte Conny, die ihren Kopf in beide Hände stützte und aus wässrigen Augen neidisch auf meine gute Laune stierte. Mit gebrochener Stimme versuchte sie mir plausibel zu machen, dass ich für die PK am Montag noch zehn Qs & As zu schreiben hätte und dass Tarrach sie bis elf Uhr benötigte. Ich hasste diese Anglizismen-Manie, die einzig dafür geschaffen war, unsere besondere Geisteskraft zu demonstrieren, ohne die eine Karriere im Werbebusiness illusorisch blieb. Mein Vize-Chef Tarrach war die personifizierte Anglizismenmaschine, aber das sollte mich von meiner Aufgabe nicht abhalten.
Ganz nebenbei sah ich, wie Connys Mundwinkel verdächtig zuckten.
»Was ist los, Baby? «
Schon heulte sie los, erst lautlos, dann schamlos, bis sie in ihr Taschentuch prustete:
»Was weiß ich, ob ihr nicht unter einer Decke steckt! «
Also ging es um Tarrach. Ihre Hysterie ging mir zwar auf die Nerven, doch ich konnte mittlerweile verstehen, warum es Menschen einander in die Arme treibt, die sich unter anderen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten. Die Macht des Begehrens ist stärker als alle Vernunft. Nun verhielt es sich aber so, dass die Schöpfung Mensch sehr weit entfernt von all den anderen Kreaturen auf dieser Welt war, die einzig der Erhaltung der Art wegen einander begehrten. Die menschliche Kopulation dient - neben der Lust an der Lust im Allgemeinen - der Steigerung des Lebensniveaus im Besonderen, wobei im Letzteren Connys Erwartung bestand.
»Du heulst doch nicht, weil du das Vertrauen verloren hast. Du heulst, weil du den Glauben an dich selber verloren hast, weil deine Erwartungen zu hoch geflogen sind und der Absturz so wehtut. «
Wie ich es meinte und wie Conny es verstand, dazwischen lagen Welten, das verriet mir ihr boshafter Blick. Ich hatte es gut an diesem frühen Morgen, noch war ich mir sicher, dass mir so etwas nie passieren könne. Bis zu meiner Erfahrung mit Laila vergeudete ich keinen einzigen Gedanken daran, ein Mann könnte Schuld an den Tränen einer Frau haben.
Ohne die nervende Sirene erneut in Gang setzen zu wollen und ohne meine gute Laune in weiblicher Hysterie ersaufen zu lassen, tastete ich mich vorsichtig an Connys Problem:
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