Seufzend griff sie erneut nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Verlobten Max.
»Bürger«, meldete der sich nach dem zweiten Klingelton.
»Hallo Max, ich bin‘s«, Kathi lehnte sich entspannt zurück. Es war gut, seine Stimme zu hören.
»Kathi, mein Herzblatt, schön dass du anrufst. Bist du schon zu Hause? Wollen wir noch ausgehen?«
»Ja, ich bin zu Hause, aber nach Ausgehen ist mir jetzt nicht.«
Sie erzählte ihm von der Unterhaltung mit ihrer Mutter. »Na ja, Unterhaltung ist wohl maßlos übertrieben, du weißt ja wie sie ist. Es war eher ein kurzer Wortwechsel. Wir hatten noch nie lange Gespräche«, fügte sie resigniert hinzu.
»Oh, das ist ja schrecklich«, rief Max aufgeregt, »ich komme sofort zu dir.«
»Nein nein, das ist wirklich nicht nötig. Es geht mir gut, ich wollte nur deine Stimme hören.«
»Du weißt, ich bin immer für dich da.«
»Weiß ich, danke. Komm doch morgen Mittag zum Essen in die Kantine. Ich lad‘ dich ein.«
Max zögerte. »Bist du sicher, dass du morgen arbeiten möchtest? Deine Crew wird auch mal einen Tag ohne dich auskommen.«
»Natürlich würden sie das, aber das ist nicht notwendig. Wozu sollte ich denn zuhause bleiben? Ich könnte natürlich zu meiner Mutter gehen, aber ich glaube, das wäre ihr gar nicht recht.«
»Hm … das glaube ich ehrlich gesagt auch. Zum Trost spenden braucht sie dich sicher nicht.«
»Eben. Auf mich kann sie gerne verzichten. Morgen gibt es dein Lieblingsgericht, Seelachs in Mandelkruste. Ich reserviere dir ein besonders schönes Stück.«
»Na ja, das klingt hervorragend. Und heute kann ich dir wirklich nichts Gutes mehr tun?«
»Das hast du schon mein Schatz«, erwiderte Kathi leise, »Bussi und gute Nacht.«
»Bussi mein Herzblatt, schlaf schön, bis morgen.«
Kathi seufzte wieder, aber diesmal mit einem glücklichen Lächeln in den Augen. Seit sie mit Max zusammen war, und das waren jetzt schon fast zwei Jahre, schien ihr das Leben so leicht. Das Gefühl, einen Menschen von ganzem Herzen zu lieben, und von ihm ebenso geliebt zu werden, war unbeschreiblich. Sie hatte einmal gelesen, wenn jeder Mensch auf der Welt nur einen anderen Menschen glücklich machen würde, wären alle Menschen glücklich. Was für ein wundervoller Gedanke. Kathi hatte in Max den Menschen gefunden, den sie glücklich machen würde. In ihrer Familie war Liebe ein Fremdwort.
Nachdem sie sich ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, stand Kathi am Fenster und versenkte ihren Blick wieder in den tiefblauen Nachthimmel. Die Dunkelheit war mittlerweile unbemerkt über die Dächer der Stadt gekrochen. Ihre Gedanken wanderten wie von selbst zu ihrer Familie. Und diese Gedanken gefielen ihr gar nicht. Sie trank ihr Glas leer, schüttelte das Unbehagen, das sie mit einem Mal überfallen hatte, ab und ging erschöpft zu Bett. Doch der ersehnte Schlaf wollte sich nicht gleich einstellen. ›Nur nicht wieder grübeln‹, dachte sie, ›denk an etwas Schönes‹. Und sie dachte an Max, an ihre harmonische Beziehung und an eine himmlische Zukunft mit ihm. Darüber schlief sie ein.
Nach einer Weile schreckte sie plötzlich hoch und war mit einem Mal wieder hellwach. Sie hatte ihren Vater gesehen. Er stand vor ihrem Bett und schaute sie mit einem traurigen Hundeblick an.
Erschrocken schaltete sie die kleine Tischlampe an, rieb sich mit den Händen über ihre Augen und sah mit flatterndem Herzen umher. Aber da war natürlich niemand, sie hatte nur geträumt.
Irritiert sank sie wieder auf ihr Kissen nieder, doch an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sie konnte die Bilder der Vergangenheit, die wie Libellen in ihrem Kopf herum schwirrten, nicht mehr verscheuchen.
Anna und Wilfried
Anna Poltz und Wilfried Sailer heirateten im Frühjahr 1971. Anna war gerade 21 Jahre alt und schwanger.
Sie war die einzige Tochter von Josef und Klara Poltz und wuchs praktisch im Geschäft der Eltern auf. Der Laden, die schönen Stoffe und die elegante Damenmode faszinierten sie schon als Kind und es war ihr größtes Vergnügen, im Verkauf helfen zu dürfen. Mit 14 Jahren erlernte sie bereits das Schneiderhandwerk von ihrem Vater, absolvierte dann noch eine Ausbildung zur Fachverkäuferin, lernte in Abendkursen Buchführung und besuchte nebenher noch ein Geschäftsführer-Seminar. Die Mutter war stolz darauf, dass sich ihre Tochter so gründlich auf die spätere Übernahme des Geschäftes vorbereitete.
Mit 18 Jahren lernte sie Wilfried Sailer kennen. Er war Außendienstmitarbeiter einer Großweberei, kam regelmäßig mit Stoffmustern in den Laden und lieferte Klara Poltz dann die bestellte Ware frei Haus.
Anna freute sich immer, ihn zu sehen. Seine große, sportliche Erscheinung, der klare Blick seiner blauen Augen und die Geste, wie er mit den Fingern seine halblangen, blonde Haare zurück strich, die dann wieder locker in sein Gesicht zurückfielen, hatten es ihr angetan. Für Wilfried war es Liebe auf den ersten Blick. Anna, groß und schlank, mit langen, brünetten Haaren, war genau sein Typ. Wenn sie ihn mit ihren grau-blauen Augen anlächelte, setzte für einen Moment sein Herzschlag aus. Doch er war kein Draufgänger. In seiner eher zurückhaltenden Art warf er seiner Angebeteten nur schüchterne Seitenblicke zu, wenn er mit Klara Poltz verhandelte. Annas Mutter bemerkte natürlich seine Verliebtheit und ermunterte ihn:
»Warum gehen Sie nicht einmal mit Anna aus? Sie ist so fleißig bei der Arbeit, aber sie braucht auch hin und wieder eine Abwechslung.«
Das ließ sich Wilfried nicht zweimal sagen. Mit dem Segen der Mutter wurde er wagemutig und lud Anna schon am nächsten Tag ins Kino ein. Und seither trafen sich die beiden immer öfter. Wilfried holte Anna mit dem Auto ab, sie gingen zum Tanzen in die Disco, oder auf eine Pizza zum Italiener, sie spielten mit Freunden Bowling, besuchten Konzerte und liebten es, an den Wochenenden mit der Clique Ausflüge an den See, oder in die Berge zu machen. Mit der Zeit wurde Wilfried immer drängender. Wiederholt schlug er Anna vor, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Doch das lehnte sie konsequent ab.
Ihr gefiel das Leben, wie es jetzt war. Sie sah ihre Beziehung nicht so eng und fürchtete, wenn sie mit ihm schlafen würde, käme das schon einem Eheversprechen gleich. Doch sie dachte noch nicht daran zu heiraten und damit ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Deshalb hatte sie Wilfried, selbst nach dem die beiden schon zwei Jahren miteinander ›gingen‹, nicht mehr erlaubt als Händchen halten und schmusen.
Jedenfalls bis zur letzten Silvesternacht. Die beiden zogen mit der Clique durch die Kneipen der Stadt. Um Mitternacht köpften sie einige Flaschen Sekt, die Stimmung wurde immer ausgelassener und schließlich endete die lange Nacht in Wilfrieds Bett.
Vier Wochen nach der Party stellte Anna fest, dass sie schwanger war.
»Ein uneheliches Kind?« Die Mutter war entrüstet gewesen. »Das geht nicht. Wie konnte das passieren?«
»Mach mir jetzt bloß keine Vorwürfe. Ich kann nichts dafür! So ein Mist«, jammerte Anna, »ich will noch kein Kind. Was mach‘ ich denn jetzt?«
»Keine Frage, es wird geheiratet und zwar so schnell wie möglich. Das fehlte noch, dass wir mit deinem dicken Bauch ins Gerede kommen. Ich mach dir keinen Vorwurf, aber das Kind muss ehelich geboren werden.«
»Ich will aber noch nicht heiraten!«
»Tja, ich könnte jetzt sagen, das hättest du dir vorher überlegen müssen. Aber es ist nun mal wie es ist. Du liebst doch deinen Wilfried, oder?«
»Ja, ich denke schon, aber ich fühl mich noch zu jung, um eine Familie zu gründen.«
»Da mach dir mal keine Sorgen, ich bin ja auch noch da.«
Nach einer Woche waren Anna und Wilfried verheiratet und acht Monate später kam die kleine Ruth zur Welt.
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