Einige Besatzungsmitglieder kamen angelaufen, um sich nach der Ursache für die plötzliche Kursänderung zu erkundigen. Tado gab dem Donneraal die Schuld. Er wollte keineswegs den Kriegern gegenüber äußern, dass er entgegen der ausdrücklichen Anweisung des Kapitäns gehandelt hatte, außerdem spielte es im Moment ohnehin keine große Rolle, wer die Verantwortung für die Richtungsänderung trug, denn das Monster hatte bei seinem Tod das Steuer zerstört, und so würde das Schiff weiterhin auf seinem neuen Kurs bleiben, ohne dass die Mannschaft etwas dagegen tun konnte. Dieser Umstand verhinderte jedoch nicht, dass Tado schon wenige Minuten später seine Tat bereute. Selbst wenn sie dem Unwetter entkommen sollten – was angesichts ihrer derzeitigen Lage trotz der neu eingeschlagenen Richtung eher unwahrscheinlich war – begaben sie sich eigentlich in eine noch größere Gefahr. Telkor mochte ihnen ein paar Stunden schenken, doch falls die Magier sie finden würden, wäre ihre Zeit ebenso abgelaufen.
All dies lag jedoch in weiter Ferne; im Augenblick galt es, den Angriff der Donneraale zu überleben. Ein paar der Besatzungsmitglieder hatten ein großes Segeltuch aufgetrieben und damit das im Boden entstandene Loch abgedeckt, sodass der Regen nicht die darunter befindlichen Räume unter Wasser setzte. Die Krieger an Bord wichen nun mehr und mehr in die Mitte des Schiffes zurück, denn ihre Zahl war weit unter die Hundert gesunken und sie fanden nun alle unterhalb der Masten Platz, sodass die Donneraale in ihrer Vorgehensweise, von oben auf die Decks herabzustürzen, erheblich eingeschränkt wurden und die Besatzung einen Moment durchatmen konnte.
Der Wind blähte die Segel des Schiffes nun stärker als zuvor, und seitdem sie den neuen Kurs eingeschlagen hatten, brachten die hohen Wellen, die hauptsächlich von Süden her kamen, das Boot nicht mehr ganz so heftig zum Schaukeln, manchmal gaben sie dem dahintreibenden, mittlerweile stark beschädigten Gefährt sogar zusätzlichen Antrieb, sodass es für kurze Zeit regelrecht über den Ozean schoss, und einmal beinahe einen der Donneraale mit dem Bugspriet aufspießte. Ansonsten zeigten sich die Ungeheuer von der größeren Geschwindigkeit des Schiffes wenig beeindruckt, viel nervöser schien sie jedoch der neue Kurs ihrer Beute zu machen, denn ein paar Bestien wandten sich von dem Überbleibsel ihrer Opfer ab und begannen, ihre Körper gegen den Bug zu stemmen, um das Vorankommen der Besatzung zu verhindern. Offenbar wussten sie, wohin diese Route führte.
Einer der Krieger schlug vor, die Angriffe der Donneraale unter Deck auszusitzen in der Hoffnung, ihre Feinde würden von sich aus von ihnen ablassen. Es war keine gute Idee und sie wurde auch umgehend abgelehnt, denn wenn die Monster es schaffen sollten, die Masten des Schiffes zu zerstören, würden sie auf ewig in diesen Gewässern festsitzen. Daher mussten sie sich zwangsläufig als Beute preisgeben, wenn sie zumindest eine geringe Chance haben wollten, den Angriff zu überleben.
Mit unveränderter Macht wütete das Gewitter die ganze nächste Stunde lang. Ein Blitz traf den vorderen Mast, das durchnässte Holz ächzte, entzündete sich jedoch nicht. Weniger glimpflich ging der Zusammenprall mit zwei Donneraalen aus: Als die beiden Bestien auf ihre Opfer niederstießen, erwischten auch sie den vorderen Mast. Seile rissen; eines der Segel verkantete sich. Der Sturm drückte mit solcher Macht dagegen, dass der Mast sich bog und nach einem weiteren Zusammenstoß mit einem Donneraal schließlich brach. Für wenige Sekunden verhedderte er sich im Tauwerk; das Schiff bekam Schlagseite, dann vermochten die Seile seine Last nicht mehr zu halten und er stürzte ins Meer, eines der Ungeheuer unter sich begrabend. Der Mast hing noch immer an einigen Tauen und wurde seitdem vom Schiff mitgezogen.
Als Tado glaubte, durch die Kälte das Gefühl in seinen Fingern verloren zu haben, begannen die Donneraale plötzlich, sich merkwürdig zu verhalten. Sie ließen von den Kriegern ab, stattdessen griffen sie nun das Schiff selbst an; ein verzweifelter Versuch, ihre Beute am Entkommen zu hindern. Das Boot wankte bedrohlich, als die Bestien ihre gewaltigen Körper gegen den massiven Rumpf schlugen, doch ihre weiche Haut war der Handwerkskunst Telkors unterlegen: Die Donneraale vermochten die Außenseite des Schiffes nicht zu beschädigen. Ermutigt durch die plötzliche Verwirrung der Monster wagten sich einige der Krieger, bewaffnet mit Armbrüsten, wieder etwas näher an die Reling und eröffneten das Feuer auf die Donneraale.
Der Regen verebbte. Die Gefährten merkten es zuerst gar nicht, denn noch immer schwappte die Gischt der aufgewirbelten Wellen an Deck und hüllte sie ein wie eine kalte Dusche. Doch schon kurze Zeit später, als sich der Himmel vor ihnen auftat, die Wolken auseinander stoben und den Blick auf ein schwach vom Mond beleuchtetes Firmament freigaben, keine Blitze mehr auf das lädierte Schiff hinabfuhren und der letzte Donner als halblautes Echo im Rauschen des Ozeans unterging, da begriffen sie schließlich, dass ihr Plan funktioniert hatte.
Mit einem wütenden Brüllen bäumten sich hinter ihnen die Donneraale ein letztes Mal auf, ehe sie für immer in den Fluten verschwanden. Der Wind flaute indes ab, wurde zu einer sanften Brise, die die kühle Nachtluft gemächlich über das Schiff wehte. Die Wellen verloren jäh an Größe und büßten ihre Schaumkronen ein. Erleichterung machte sich in der fünfzig Mann starken Besatzung breit. Einige sanken erschöpft zu Boden, andere besahen sich den Schaden, den das Schiff davongetragen hatte, genauer. Die Gefährten jedoch begaben sich nach vorne, in die Nähe des Bugspriets, und blickten mit gemischten Gefühlen in die Dunkelheit vor sich. Sie wussten, worauf das Boot zuhielt. Trotz allem konnte Tado eine gewisse Neugier, die ihn überkam, während seine Augen den Horizont abtasteten, nicht leugnen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Yala schließlich, nachdem die vier eine Weile nur schweigend nebeneinander gestanden hatten, und sie sprach damit genau jenen Gedanken aus, der sie alle im Moment beschäftigte. Sie erhielt keine Antwort.
Es waren kaum zehn Minuten vergangen, seit sie das vernichtende Gewitter und die Donneraale hinter sich gelassen hatten, da tauchte am Horizont, leicht nördlich ihres derzeitigen Kurses, ein rötlicher Schimmer auf. Im ersten Moment nicht viel mehr als ein blasses Leuchten, das Spiffi zunächst als riesigen, herabfallenden Stern fehldeutete, wurde es dann jedoch schnell größer, weitete sich in alle Richtungen aus und ließ seinen Schimmer auf dem bewegten Ozean widerspiegeln, wie das warme Licht der Morgenröte, die nach einer langen Nacht vorsichtig in den Himmel hinaufkroch.
Das Schiff gewann plötzlich an Geschwindigkeit. Es lag keineswegs an einem jäh auffrischenden Wind, sondern an einer Meeresströmung, die das kaum mehr seetaugliche Wrack erfasste und geradewegs auf die sonderbare Erscheinung zuhalten ließ. Dieser Umstand lenkte auch die Blicke der übrigen Besatzung auf den orangeroten Schimmer, der mittlerweile den Horizont im Norden und Nordosten vollständig ausfüllte und die nächtliche Schwärze langsam nach Süden verdrängte. So zumindest erschien es den Gefährten, in Wirklichkeit jedoch war es nur ihr Schiff, das sich mit hoher Geschwindigkeit auf den merkwürdigen Schein zubewegte.
Sergost, das ranghöchste verbliebene Besatzungsmitglied, das nach dem Dahinscheiden Adburals das Kommando über die verbliebenen Krieger erhalten hatte, befahl, das unheimliche Licht genauer zu untersuchen. Mehrere Männer erklommen daraufhin einen der noch unversehrten Masten und spähten mit Fernrohren in die Nacht hinaus. Einem der sichtlich verwirrten Krieger zufolge handelte es sich um einen Sonnenuntergang oder dergleichen, einen feuerroten Abendhimmel inmitten der nächtlichen Finsternis. Ein weiteres Besatzungsmitglied fügte hinzu, dass allerdings keine Sonne zu erkennen sei und man nicht genau sagen könne, woher die Helligkeit komme, noch dazu um diese Uhrzeit.
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