„Weil es in der Tat keinen anderen Ausweg gibt“, entgegnete Lukdan nachdenklich. Tado starrte ihn an. „Den Kampf gegen die Donneraale können wir nicht gewinnen. Seit ein paar Minuten werden es mehr und mehr, ihre Angriffe immer stärker. Das Schiff jedoch droht, jeden Moment einen Schlag zu erleiden, der es manövrierunfähig macht oder gleich hinab auf den Meeresboden befördert. Wir müssen aus diesem Gewitter herauskommen, solange es überhaupt noch möglich ist.“
Tado sagte einen Moment lang nichts. Er sah, wie die Besatzung auf dem Vorschiff langsam zurückgedrängt wurde. Es war sinnlos, am Bug zu kämpfen. Sie sollten sich zur Mitte des Schiffes zurückziehen, wo die Donneraale sie nicht so leicht umzingeln und von allen Seiten gleichzeitig angreifen konnten.
„Du weißt, was es bedeuten würde, sich in die Hände Telkors zu begeben“, sagte Tado leise, und seine Worte wurden von einem gewaltigen Blitz untermalt, der in jener Sekunde den Himmel erhellte. „Du hast die Macht von Uris und Dulbar gesehen. Wenn wir einmal dort sind, gibt es kein Zurück mehr. Die Insel der Magier wird uns nicht wieder gehen lassen.“
„Ich habe nicht gesagt, dass wir dort anlegen sollen. Wenn die Gewässer um Telkor herum ruhig sind, können wir vielleicht–“
„Du weißt genau, dass das nichts werden wird!“, unterbrach ihn Tado. „Ich kenne die Fähigkeiten der anderen Magier Telkors nicht, aber nach allem, was ich bisher erlebt habe – was wir bisher erlebt haben – versichere ich dir, dass die Magier uns nicht mehr entkommen lassen, sobald wir uns in ihre Gefilde begeben haben! Außerdem war es Adburals klarer Befehl, keinesfalls den Kurs zu ändern. Und warst du es nicht damals in Kors Oldroi, der uns erklärte, warum Untergebene ihren Anführern stets Folge leisten sollten?“
Eine Welle schwappte an Deck, traf ihre ohnehin schon durchnässten Körper und ließ sie für einen Moment wanken. Tado schmeckte Salzwasser, sein linkes Auge brannte.
„Adbural ist nicht länger in der Verfassung, Befehle zu erteilen“, erwiderte Lukdan ungerührt. „Als er seine Entscheidung traf, wusste er, dass die Donneraale das Ende der Mannschaft bedeuten würden. Er fasste diesen Beschluss jedoch nicht zum Wohle der Besatzung. Es war sein eigenes Leben, über das er urteilte; du hast seine Worte gehört: Er wäre eher bereit, hier draußen zu sterben, als nach Telkor zu gehen. Er wäre es – was aber sagt dir, dass auch jeder einzelner der Krieger an Bord sein Schicksal teilen will? Mit Sicherheit gibt es auch in der übrigen Mannschaft einige, die den Tod auf See der Folter auf Telkor vorziehen würden. Doch wer sagt dir, dass unter ihnen nicht auch einige sind, die an ihrem Leben hängen; die selbst ein Dasein als willenloser Sklave dem Tod vorziehen? Adbural hat das Todesurteil aller Besatzungsmitglieder unterzeichnet – dies hat nichts mehr damit zu tun, seinem Anführer zu vertrauen; kein Anführer hat das Recht, auf diese Weise mit dem Leben seiner Untergebenen umzugehen. Wer sterben will, kann dies noch immer tun, wenn wir Telkor erreicht haben; ich bin sicher, dass die Magier jedem gerne dabei behilflich sein werden. Doch solange wir die Möglichkeit haben, wenigstens ein paar der Besatzungsmitglieder zu retten, sollten wir das auch tun! Telkor ist unsere einzige Hoffnung!“
Erneut schwieg Tado. Er wusste, dass Lukdan Recht hatte. Sein Blick glitt in dem Himmel. Schwarze Wolken versperrten ihm die Sicht in jede Richtung. Das Gewitter zog sich endlos zu allen Seiten hin. Niemals würden sie dem Angriff der Donneraale standhalten, bis das Wetter sich von allein besserte. So stimmte er schließlich zu. Lukdan trug ihm auf, sich zusammen mit Yala zum Steuerrad des Schiffes zu begeben, während er und Spiffi weiterhin versuchen würden, die sie umzingelnden Bestien in Schach zu halten. Er zweifelte keineswegs daran, dass Tado es allein schaffen würde, doch falls sich jedoch jemand von der Besatzung dort befinden sollte, brauchten sie ein Ablenkungsmanöver.
Yala leistete widerspruchslos Folge, als Tado sie zu sich rief. Erst als sie sich schon ein gutes Stück vom Bug entfernt hatten, erkundigte sie sich nach seinem Vorhaben. In aller Kürze berichtete er ihr von Lukdans und seinem Plan; sie schien über den Umstand, Telkor freiwillig anzusteuern, nicht allzu sehr beunruhigt zu sein. Wahrscheinlich war es schlichtweg die Erleichterung, einen möglichen Ausweg aus ihrer derzeitigen Situation gefunden zu haben, der sie das Ausmaß dieses Vorhabens nicht recht begreifen ließ.
Das Steuerrad befand sich am Heck des Schiffes. Um weitgehend unbeschadet dorthin zu gelangen, hielten sie sich hauptsächlich in der Nähe der Masten, wo die Donneraale nur selten nach Beute griffen. Vom beständigen Regen durchnässt und vom starken Wind durchgefroren, schleppten sie sich dahin, immerfort gegen das Schaukeln des Schiffes im stürmischen Ozean ankämpfend, als schließlich das Voranschreiten der Nacht eine ungeheure, noch viel schlimmere Kälte über sie brachte, die ihnen das Zittern in die Glieder trieb und sie schon bald kaum noch in der Lage waren, ihre Waffen gegen einen der Feinde zu erheben. Tado wunderte es, mit welcher Beharrlichkeit die Krieger sich noch immer der Monster erwehrten.
Das große Steuerrad stellte sich als unbesetzt heraus – dies zumindest war eine gute Nachricht und gab ihnen die Kraft, die letzten Meter in einem etwas schnelleren Tempo zurückzulegen. Bevor sie ihr Ziel jedoch erreichten, zogen sie die Aufmerksamkeit eines Donneraals auf sich, und das Ungeheuer stieß auf sie herab. Die Ausweichversuche der beiden Gefährten endeten mit einem schmerzhaften Sturz auf das nasse, harte Holz des Achterdecks.
„Sei vorsichtig!“, rief Yala ihm zu. „Es darf auf keinen Fall das Steuerrad beschädigen!“
Daran hatte Tado überhaupt nicht gedacht. Langsam kam er wieder auf die Füße und entfernte sich ein Stück von besagter Vorrichtung. Nervös sah er sich um. Alle in der Nähe befindlichen Krieger steckten entweder mitten im Kampf gegen die Donneraale oder lagen bewusstlos am Boden. Niemand würde ihnen in diesem Moment zu Hilfe kommen können.
Ein Pfeil Yalas durchbohrte die Bestie. Der Donneraal knallte aufs Deck, Holzsplitter flogen in alle Richtungen davon, doch das Monster gab sich keineswegs geschlagen. Tado wurde durch die Erschütterung erneut zu Boden geworfen und brachte sich in den Besitz eines im Holz steckenden metallenen Speers, der einmal einem der Besatzungsmitglieder gehörte. Das Ungeheuer hob seinen Kopf ein paar Meter in die Höhe, unsicher hin und her schwankend, und Blut lief ihm aus der großen Wunde, die das Geschoss im Halsbereich hinterlassen hatte. Die Gunst der Stunde nutzend, lief Tado hinüber zum Steuerrad, geriet kurz ins Stolpern, als ein unerwarteter Ruck durch das Deck ging, und versetzte es mit einer schwungvollen Bewegung in Rotation, sodass das Schiff sich langsam Richtung Nordosten drehte. Die Kursänderung sorgte für ein kurzzeitiges Chaos bei der Mannschaft, viele wandten sich für einen Moment vom Kämpfen ab, um nach dem Rechten zu sehen, doch der Sturm und die Gischt der hochschlagenden Wellen ließen sie nicht viel mehr erkennen als bloße Schemen in der Nähe des Steuerrades.
Unbeeindruckt von der plötzlichen Hektik an Bord zeigten sich die Donneraale. Ihr unbarmherziger Angriff kam für keine einzige Sekunde ins Stocken, und so stieß das schwer verwundete Monster, das noch immer die Gefährten behelligte, wieder hinab aufs Deck. Doch Tado war schneller. Noch bevor die gewaltigen Zähne der Bestie Yala erreichen konnten, trieb er den metallenen Speer in die ungepanzerte Haut des Donneraals, bis er auf etwas Knochenähnliches traf; dann benutzte er die Waffe als Hebel. Er hörte eine Gräte brechen, und unter einem markerschütternden Aufschrei schoss das Monster in die Höhe, wand sich mehrfach um seinen eigenen Körper, bis ein weiterer Pfeil Yalas seinen Schädel durchschlug und dem Monster endgültig den Garaus machte. Es krachte ungebremst auf das Deck, begrub das Steuerrad unter sich und riss ein großes Loch in den Boden, sodass der Blick auf die darunterliegenden Räume frei wurde, ehe es zurück ins Meer rutschte und in den Fluten versank.
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