Angesichts der näher kommenden finsteren Wolken und des ihnen hinterherstürmenden schlechten Wetters begab sich Tado schließlich unter Deck, denn es behagte ihm nicht, wie sehr das Schiff seit Kurzem schaukelte, und er wollte nicht Gefahr laufen, über Bord zu gehen. So zog er sich in die kleine, fensterlose Kammer zurück, die ihm als Schlafraum diente. Die Besatzung hatte für all die unterschiedlichen Räume des Schiffes merkwürdige Namen, doch Tado fand dies überflüssig und merken konnte er sich die ganzen Bezeichnungen ohnehin nicht.
Eine Kerze brannte auf dem winzigen Tisch, der zwischen dem Bett, auf das Tado sich nun setzte, und der hölzernen Wand eingeklemmt war. Er konnte sich nicht erinnern, sie entzündet zu haben. Es schien ihm keine gute Idee, bei dem starken Seegang eine potentielle Brandquelle in seinem Zimmer zu haben, und so setzte er dazu an, sie zu löschen, als er in diesem Moment ein unheilvolles Leuchten wahrnahm, das seiner Drachenklinge zu entspringen schien. Wollte der Lord des Feuers etwa mit ihm sprechen? Tado behagte der Gedanke, hier auf diesem Schiff inmitten von Menschen, die unter keinen Umständen von der Präsenz des Magiers erfahren durften, eine Unterredung mit seinem Erzfeind zu führen, überhaupt nicht. Andererseits schien der Lord seit seiner Niederlage tatsächlich nicht mehr viel mit dem Rest Telkors zu tun zu haben, und so beschloss Tado letztendlich, ihm eine Chance zu geben. Schließlich konnte er das Gespräch jederzeit beenden.
Langsam führte er die Drachenklinge an die Kerze heran, die ihrerseits auf das Nahen des Schwertes mit einer kleinen Stichflamme in Richtung der Waffe antwortete. Als sich Feuer und Metall trafen, erstrahlte der kleine Raum für einen kurzen Moment in einem gleißenden Licht, Flammen entstanden aus dem Nichts und vereinigten sich zu einem lodernden Ball, dem wenig später die Gestalt des Lords entstieg. Obwohl Tado wusste, dass der Magier in diesem Zustand keinerlei Macht mehr besaß, hatte seine Erscheinung dennoch etwas Furchteinflößendes an sich.
„Ich muss zugeben, ich bin ein wenig beeindruckt, dass du all das, was dir seit unserer letzten Begegnung widerfahren ist, so unversehrt überstanden hast“, sagte der Lord anerkennend.
„Und dennoch wird das kaum der Grund sein, weshalb du mit mir sprechen wolltest“, fuhr ihm Tado ins Wort.
„Natürlich nicht“, entgegnete der Magier. „Aber es freut mich, dass du endlich zur Besinnung gekommen bist und den Weg nach Telkor einschlägst. So viel Vernunft hätte ich einem Menschen wie dir gar nicht zugetraut.“
„Du irrst dich“, antwortete Tado, wenngleich die Worte des Lords ein ungutes Gefühl in ihm aufsteigen ließen.
„Unmöglich, und das weißt du“, unterbrach ihn der Lord ein wenig ungehalten.
„Dieses Schiff fährt nicht nach Telkor“, überging Tado die Bemerkung seines Gegenübers. „Es befindet sich auf dem Weg nach Fallashald, einem Land jenseits der Insel, auf die du so verzweifelt zu gelangen versuchst.“
„Ich weiß, wo Fallashald liegt“, gab der Magier zurück. „Ich habe seinerzeit bei der Unterwerfung der dortigen Bevölkerung einen nicht unerheblichen Anteil geleistet.“
Für Tados Begriffe hatte er diese Tatsache ein wenig zu beiläufig geäußert.
„Aber wie dem auch sei“, sprach der Lord weiter. „Dieses Schiff wird Fallashald nie erreichen. Ich bin mir sicher, du hast das Gewitter gesehen, auf das die Besatzung zuhält.“
„Kein Gewitter ist so schlimm, als dass man ihm einen Aufenthalt in Telkor vorziehen würde“, entgegnete Tado.
Ein Ruck ging durch das Schiff. Die Kerze drohte umzukippen. Aufgeregte Stimmen drangen von draußen zu ihnen herein. Vermutlich hatten sie die Unwetterfront soeben erreicht.
„Du bist ein erschreckend gutes Beispiel für die Naivität der Menschen“, sagte der Lord in aller Gelassenheit. Wäre er mehr als nur ein körperloser Geist gewesen, hätte der Magier sich in diesem Moment kaum noch auf den Beinen halten können, so sehr schwankte das Schiff inzwischen. „Nicht, dass mich das allzu sehr überrascht, doch eigentlich hatte ich erwartet, dass du in der Zwischenzeit etwas mehr Weitsicht erlangt hättest. Stürme wie dieser treten in der Gegend um Telkor häufig auf, und nicht selten bringen sie Schiffe, die sich in ihre Fänge begeben, zum Kentern. Das allein wäre sicher kein Grund zur Sorge; Telkors Boote halten solchem Wetter stand. Doch gibt es Dinge in diesem Ozean, die eine weitaus größere Gefahr darstellen als eine stürmische See und die interessanterweise mit großer Vorliebe bei Witterungen wie dieser ihr Unwesen treiben.“
Ein lauter Knall war zu hören, als hätte jemand mit einem gigantischen Hammer den Schiffsbauch eingeschlagen. Tado fuhr erschrocken zusammen, der Lord hingegen zeigte sich geradezu fasziniert. In die Stimmen vom Deck mischten sich Schreie. Irgendetwas musste da draußen vor sich gehen.
„Alle Schiffe, die von Syphora aus nach Osten segeln und Telkor zu umrunden versuchen, geraten unweigerlich in einen jener Stürme, aus dem es kein Entkommen mehr gibt – nur ein schmaler Streifen ruhigen Gewässers verspricht Rettung. Welch ein Zufall, dass dieser Streifen unmittelbar vor den Küsten Telkors liegt und die Insel als eine Art schützender Ring umgibt. Auf diese Weise sind die Magier in der Lage, etliche hundert Kilometer des Ozeans zu kontrollieren, ohne auch nur den Fuß auf ein Schiff setzen zu müssen.
Ihr seid nun bereits zwei Tage unterwegs, Telkor sollte also ein kurzes Stück nordöstlich von hier liegen. Aber ich bin mir sicher, dass der Kapitän über diesen Umstand Bescheid weiß.“
Die Worte des Lords hatten Tado für einen Moment das Schaukeln des Schiffes und die immer lauter werdenden Rufe der Besatzung vergessen lassen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dem Magier zu glauben. So weit durfte es einfach nicht kommen.
„Was ist mit dem Süden?“, versuchte er zu widersprechen. „Es würde uns zwar etwas Zeit kosten, aber wir könnten dem Sturm in südlicher Richtung ausweichen!“
„Wenn du auf ein Riff auflaufen möchtest, kannst du das gerne tun“, antwortete der Lord. „Kein Schiff kann die südlichen Meere durchqueren.“
Ihr Gespräch wurde abrupt unterbrochen, als die Tür zu der kleinen Kammer aufgerissen wurde und der schwache Schein der Kerze auf das erschöpfte und regenüberströmte Gesicht Spiffis fiel. Der Bogenschütze keuchte vor Erschöpfung und hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest, um auf dem schaukelnden Gang nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Tado wäre fast das Herz stehengeblieben. Wenn man ihn hier erwischte, wie er in aller Seelenruhe mit einem Mitglied der Oberen Vier plauderte, würde die Besatzung ihn wahrscheinlich über Bord werfen. Doch der Lord des Feuers handelte geistesgegenwärtiger: In dem Moment, in dem die Tür aufschwang, ging seine Gestalt in Flammen auf und stob als riesiger Berg aus Funken in alle Himmelrichtungen davon. Spiffi prallte erschrocken zurück, als ein Teil des Feuerregens auf ihn niederging.
„Was machst du denn da?“, herrschte er Tado entsetzt an, beruhigte sich jedoch einen Augenblick später und fuhr mit weniger vorwurfsvoller Stimme fort. „Es gibt ein großes Problem! Der Kapitän hat angeordnet, dass jeder Mensch an Bord, der dazu imstande ist, eine Waffe zu führen, sich unverzüglich an Deck einfinden soll!“
Noch unklarer konnte er sich kaum ausdrücken, doch hätte der Bogenschütze ihm die Wahrheit gesagt, wäre Tado wahrscheinlich gar nicht erst aufgestanden. So jedoch folgte er seinem Gefährten hinaus an die frische Luft. Ein kräftiger Wind fegte ihn beinahe von den Beinen, als er unbedarft ins Freie trat und sich ein Bild von der Lage zu machen versuchte. Kalter Regen durchnässte ihn in Sekundenschnelle, er sah den Himmel über sich für einen Moment aufleuchten und zuckte im nächsten Moment unter einem heftigen Donner zusammen. Eines der Segel hatte man versucht, einzuholen; es war misslungen. Die großen Masten ächzten unter der Kraft des Sturmes. Doch das Unwetter schien die Besatzung im Moment weniger zu kümmern. Aus den Fluten rings um das Schiff herum schossen in unregelmäßigen Abständen die finsteren Körper grässlicher Kreaturen empor, verursachten gefährliche Einschläge in der Außenhaut des Bootes oder versuchten, eines der Besatzungsmitglieder zwischen die fingerlangen, messerscharfen Zähne zu bekommen, ehe sie wieder in den mannshohen Wellen verschwanden. Die Wesen hatten ein furchterregendes Aussehen: Wie gewaltige Würmer bohrten sie ihren fein geschuppten, schlangenartigen Körper aus dem Wasser, zwanzig, dreißig Meter hoch, fast bis zu den Spitzen der Schiffsmasten, und wenn ein Blitz den Himmel für kurze Zeit erleuchtete, dann wirkten die Kreaturen mit ihrer großen, kammartigen Rückenflosse wie ein wütender Drache, ehe sie mit gierigem Blick auf ihre Opfer herniederstießen. Es waren Donneraale, uralte Wesen aus den Tiefen des Ozeans, die ihre Beute stets bei starkem Gewitter jagten. Es gab in den Meeren der Welt nicht viele Geschöpfe, die sich auch nur in ihre Nähe wagten. Sogar der Magie Telkors hielten sie stand.
Читать дальше