„Was ist das für eine merkwürdige Substanz?“, fragte Lukdan, während er versuchte, eine Handvoll Staub zu einem Ball zusammenzupressen, was jedoch misslang. Die Magier zögerten.
„Asche“, sagte Juphien schließlich.
Die Gefährten blieben wie angewurzelt stehen. Hätte man Tado einen Eimer der flockigen Masse gezeigt und dabei womöglich unauffällig auf einen nahestehenden Kamin gedeutet, wäre er wohl zu dem gleichen Schluss gekommen. Doch für diese ungeheure Menge müsste man schon ein ganzes Land niederbrennen. Was Juphien sagte, konnte einfach nicht stimmen.
„Das Graustaubtal hat mehrfach in der Geschichte Telkors eine tragende Rolle gespielt“, begann Lillyopha. „Entstanden ist es einst beim Ausbruch des gewaltigen Vulkans, der die Insel fast in Stücke riss. Es ist ein Überbleibsel des Kraters. Seinen Namen erhielt es allerdings erst später, denn zu dieser Zeit bedeckte noch keine meterdicke Ascheschicht seinen Boden. Dazu kam es dann während der Schlacht zwischen den Oberen Vier und ihren Widersachern. Als die Aufständischen auch am vierten Tag noch nicht zurückgeschlagen werden konnten, die Verluste auf der Seite der Verbündeten der Lords jedoch immer größer wurden, stellte ihnen der Lord des Feuers ein Ultimatum: Sollte das feindliche Heer sich nicht freiwillig ergeben, würde er jeden einzelnen von ihnen ausnahmslos vernichten. Damals, bevor Telkor seinen Namen erhielt, war es noch üblich, besiegte Feinde stets gefangen zu nehmen oder zu versklaven, nicht jedoch zu töten. Nicht aber deswegen zweifelten die Aufständischen seine Worte an, sondern eher, weil sie glaubten, wenn er zu so etwas imstande wäre, würde er sie schon längst vernichtet haben. So ignorierten sie seine Drohung – ein fataler Fehler. Der Lord des Feuers rief die Truppen der Oberen Vier aus dem Tal, das Austragungsort der Schlacht war, zurück, und ließ ein gleißendes Inferno auf den Kampfplatz niedergehen; ein magisches Feuer von solcher Stärke, dass es alles und jeden in diesem Gebiet in lodernde Flammen hüllte und innerhalb kürzester Zeit verbrannte. So endete die Schlacht am Abend des vierten Tages, doch das Feuer des Lords brannte weiter, obwohl es im Tal längst schon nichts mehr gab, was ihm noch hätte zum Opfer fallen können. Es dauerte ein ganzes Jahr, ehe die letzten Flammen erloschen, und alles, was zurückblieb, war eine dicke Schicht grauer Asche, die diesem Ort seinen Namen gab. Im Laufe der Zeit hat der Wind einen Großteil davongeweht, sodass man das Tal heutzutage wieder betreten kann, ohne hoffnungslos zu versinken.“
„Vielleicht versteht ihr jetzt, warum wir uns ein wenig schwertun, euch zu glauben, wenn ihr sagt, ihr hättet den Lord des Feuers vernichtet“, ergänzte Crius.
Dieser Geschichte hatte es eigentlich gar nicht bedurft, um Tado die Macht des Lords vor Augen zu führen. Schon vorher fragte er sich jedes Mal, wenn er an den Kampf zurückdachte, wie ein Sieg überhaupt möglich gewesen war.
Die Magier wandten sich unterdessen nach links, denn diese Richtung führte sie, wie sie sagten, nach Süden. Sie hielten sich eng am Rand des Tals, doch es bewahrte sie keineswegs davor, dass ein kräftiger Wind ihnen von Zeit zu Zeit einen Schwall grauer Asche ins Gesicht blies, sodass sie sich abwenden mussten und ihr Vorankommen für einen Moment ins Stocken geriet.
Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie eine Stelle, an der die steinernen Klippen zwei schmale Ausläufer bildeten, die sich gute fünfzig Meter ins Innere des Tals erstreckten und auf diese Weise einen breiten Kessel formten. Darin war es nicht nur windstill; dieser Ort schien auch der langersehnte Treffpunkt zu sein. Viele Magier hatten sich hier bereits versammelt, es mussten ungefähr hundert sein. Einige hatten damit begonnen, die Asche auf dem Boden an die Ränder der Klippen zu schieben, wurden jedoch von Crius angewiesen, derartige Dinge unterbleiben zu lassen, schließlich wollte man nicht, dass die Untergebenen des Lords anhand solch ungewöhnlicher Spuren den Versammlungsort ihrer Gruppe würden ausfindig machen können.
„Langsam verstehe ich, warum Crius sich nur wenig begeistert zeigte, als ihm mitgeteilt wurde, dass der Treffpunkt an diesen Ort hier verlegt wurde“, sagte Lukdan zu den Gefährten.
„Wie meinst du das?“, fragte Spiffi. „Es ist schön geschützt hier.“
„Genau das ist das Problem“, erwiderte der Mann aus Akhoum. „Es gibt nur einen einzigen schmalen Ausgang aus diesem Kessel. Die uns umgebenden Felswände sind zu glatt und zu steil, um sie hinaufzuklettern. Sollte uns irgendjemand von oberhalb der Klippen aus angreifen, sind wir ihm schutzlos ausgeliefert.“
„Macht euch darüber lieber keine Gedanken“, sagte Lillyopha, die das kurze Gespräch mitangehört hatte. „Wir haben unseren Treffpunkt doch nur so kurzfristig geändert, um genau solchen Überraschungsangriffen zu entgehen. Sollten uns die Untergebenen der Oberen Vier tatsächlich auf die Schliche gekommen sein, werden sie uns hier ganz bestimmt nicht finden.“
Die diese Worte von einer Magierin stammten, konnten sie die Gefährten vorerst beruhigen. Viel interessanter war im Moment ohnehin die Frage, was genau all die versammelten Personen zu besprechen hatten. Neugierig warf Tado einen Blick in die Runde. Keiner der Magier machte einen besonders starken Eindruck oder vermittelte auch nur ansatzweise das Gefühl, es mit einem Lord aufnehmen zu können.
„Sie ist noch nicht da“, hörte er eine Stimme neben sich. Sie stammte von einem älteren Mann, der diese Worte soeben an einen deutlich jüngeren, aber dafür umso nervöseren Magier richtete, der mit einem Zettel in der Hand unruhig auf und ab ging.
Es vergingen noch einige Minuten ohne nennenswerte Geschehnisse, ehe sich plötzlich sämtliche Blicke auf den Eingang zum Versammlungsort richteten. Dort erschien, gefolgt von einer kleinen Gruppe Magier, die Gestalt Talarias. Sie trug, wie alle Anwesenden, ein Tuch vor Mund und Nase, das ihr Gesicht vor der gelegentlich aufgewirbelten Asche schützte. Mit wenigen Worten entschuldigte sie sich für ihr spätes Kommen.
„Dann können wir ja endlich anfangen“, sagte der Mann mit dem mittlerweile ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Zettel ungeduldig und trat vor. Er trug eine braune Robe, die bei jeder Bewegung eine Menge Asche in die Luft beförderte. Sein Haar war blond, seine Augen von ähnlicher Farbe, was ihn ein wenig furchteinflößend wirken ließ. Die übrigen Magier bildeten einen Kreis um ihn; die Gefährten gesellten sich dazu, um nicht unnötig aufzufallen.
„Für all jene, die bei dem letzten großen Treffen unserer Gruppe vor vierhundert Jahren nicht dabei gewesen sind oder erst in der Zwischenzeit zu uns stießen und mich daher nicht kennen: Mein Name ist Lortrul“, fuhr er fort. „Lange Zeit versuchten wir vergeblich, das Geheimnis der Zitadelle Telkors zu ergründen, die das Volk der Magier vor tausenden von Jahren in die Dunkelheit stürzte. Wir verteilten uns in alle Winkel der Insel, suchten nach einer Möglichkeit, in das verfluchte Gebäude zu gelangen, die Barriere der Oberen Vier zu durchbrechen, doch bis heute haben wir kaum einen Hoffnungsschimmer für unser Vorhaben sehen können.“
Er blickte kurz auf seinen Zettel, überlegte dann, ob er noch weitere Worte über die Geschichte der hier versammelten Widerstandsgruppe verlieren sollte, ließ es dann aber aufgrund einer allmählich aufkeimenden Unruhe in den Reihen der anwesenden Magier, denen alles, was er bis jetzt erzählt hatte, selbstverständlich bekannt war, bleiben, und ging direkt zum Grund ihres Treffens über.
„Doch nun endlich ist die Zeit des Wartens vorbei“, verkündete Lortrul voller Stolz, und die Unruhe der Magier verwandelte sich sogleich in ein überraschtes Raunen. „Vor wenigen Wochen, als ich mich mit einigen Mitgliedern meiner Gruppe am Rand des Reiches vom Lord des Feuers aufhielt, trug uns ein glücklicher Zufall einen vielversprechenden Hinweis entgegen. Demnach befindet sich auf Telkor ein Gegenstand, der seinem Besitzer eine unvorstellbare Macht verleiht, die ausreichen könnte, um den Lord der Erde zu bezwingen.“
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