„Wenn ihr noch ein klein wenig wartet, werdet ihr den ersten Aasfressern dabei zusehen können, wie sie die Kadaver der Kargahle aufspüren und verzehren“, sagte Juphien verheißungsvoll, und als die Gefährten sie nur verständnislos ansahen, da sie nicht wussten, ob die Worte der Magierin als Warnung oder als Ermutigung, sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen, gemeint waren, wandte sie verlegen den Blick ab und flüsterte noch ein paar ergänzende Worte in den Wald hinein: „Allerdings wäre das keine so gute Idee.“
Nach diesen Ausführungen musste sich Tado zwingen, nicht in einen Laufschritt zu verfallen, als die Gefährten und Juphien wieder zu den anderen beiden Magiern aufschlossen. In der darauffolgenden Zeit kam die kleine Gruppe häufiger an Weggabelungen und Kreuzungen vorbei, doch vorerst behielten sie ihre ursprüngliche Richtung bei, bis sie an eine besonders breite Abzweigung zur Linken gelangten, die aussah, als würde sie des Öfteren von Menschen, beziehungsweise von Magiern, benutzt werden. Auf dem ausgetretenen Pfad befand sich kaum herabgefallenes Laub, die angrenzenden Büsche waren licht und die hohen Bäume standen hier etwas weiter auseinander, sodass der Himmel häufiger Gelegenheit hatte, sein feuriges Orange zu zeigen. Irgendwann musste jemand einmal versucht haben, den Waldweg mit Pflastersteinen zu befestigen; dieser Plan war allerdings von den dicken, bemoosten Wurzeln der angrenzenden Bäume vereitelt worden, sodass die wenigen noch verbliebenen Steine schief und ungeordnet im Boden steckten, zur ernstzunehmenden Stolpergefahr wurden und das Vorankommen eher erschwerten als erleichterten. Glücklicherweise schien der Erbauer die Sinnlosigkeit seines Vorhabens schnell begriffen zu haben, denn schon nach wenigen hundert Metern ging das Pflaster abrupt in weichen Waldboden über.
Wenig später schwand das Dickicht auf der linken Seite nach und nach zu einem niedrigen Efeuteppich und gab den Blick auf eine alte, aber intakte Steinmauer frei, die sich mitten durch den Wald zog und offenbar einen größeren Bereich abgrenzte. An der höchsten Stelle maß sie vielleicht vier Meter in der Senkrechten, an der niedrigsten, an der sie möglicherweise nach einem starken Regenfall im aufgeweichten Boden eingesunken war, nur wenig mehr als zwei Meter. Die hölzernen Dächer niedriger Häuser wurden hinter den dekorativen Zinnen der Mauer sichtbar; kurz darauf, als der Weg in einem schwungvollen Bogen nach links abbog und sich zwischen drei besonders hohen und starken Bäumen, deren Stämme gute sechs Meter breit waren, hindurchschlängelte, wurde auch eine hölzerne Eingangspforte in der an dieser Stelle etwas schief aufragenden Mauer sichtbar. Die Baumwurzeln brachten es hier ebenfalls auf eine beachtliche Größe, manche kreuzten den Weg in seiner gesamten Breite und ragten so hoch auf, dass man ein Loch in sie hineingeschlagen hatte und die Gefährten nun unter ihnen wie durch eine Unterführung hindurchgehen konnten, ohne sich bücken oder wenigstens den Kopf einziehen zu müssen.
Je näher sie der hölzernen Eingangspforte kamen, desto mehr Geräusche schlugen ihnen entgegen: Schritte, Stimmen, unregelmäßiges Flattern und ein stetes Summen, das so gleichmäßig und unaufdringlich war, dass sie es schon nach wenigen Sekunden nicht mehr wahrnahmen. Im Gegensatz zum Rest des Waldes musste hinter den steinernen Mauern ein reges Leben herrschen. Diese Vermutung bestätigte sich, als sie das Tor hinter sich ließen und eine kleine Siedlung betraten, die sich aus gut einhundert einstöckigen, niedrigen Gebäuden zusammensetzte, die jeweils in großem Abstand zueinander in die Baumlandschaft integriert worden waren. Die Bewohner jener Häuser, bei denen es sich ohne jeden Zweifel um die von Crius erwähnten Schwankmotten handelte, schwirrten emsig über schmalen, ausgetretenen Wegen hinweg. Manche liefen durch niedriges Gebüsch, das die meisten der Gebäude umgab, und verwendeten offenbar all ihre Konzentration darauf, kleine, goldgelbe Früchte von den Zweigen der Pflanzen abzutrennen und in einem geflochtenen Korb zu sammeln, während sie gleichzeitig andere, etwas weniger gelbe Früchte ebenfalls von den Gewächsen entfernten, diese jedoch sofort in ihren Mund stopften und nach kurzem Kauen hinunterschluckten. Die merkwürdigen Wesen waren etwas größer als einen halben Meter und besaßen zwei dünne, hellbraune Flügel, die ihrem dunklen, eiförmigen Körper entsprangen, aus dem wiederum sechs schlanke Beine wuchsen, mit denen sie relativ schnell über die Erde hasten konnten. Das Gesicht der Schwankmotten sah dagegen eher schaurig aus, es glich dem Kopf gewöhnlicher Motten, wobei Tado dies erst später feststellte, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte er es gewöhnlich vermieden, Insekten aus nächster Nähe zu betrachten. Im Gegensatz zu den Gefährten, die der Siedlung der Wesen mit ungezügelter Neugier begegneten, schienen die Schwankmotten kein Interesse an den Neuankömmlingen zu zeigen, und auch die Magier, die nach wie vor mit unveränderter Geschwindigkeit vorweggingen, bedachten ihre Umgebung nur mit wenigen Blicken. Erst als ein gut fünfzig Meter breites Haus, das von der gleichen flachen Bauweise wie die übrigen Gebäude hier war und dessen Dach aussah, als sei es mit Baumrinde gedeckt worden, vor ihnen auftauchte, hielten sie inne.
„Wo ist Crius?“, fragte Yala, noch bevor die beiden Magierinnen auch nur dazu ansetzen konnten, den Grund für ihr abruptes Halten näher zu erläutern. Tado hätte das Fehlen des Mannes ohne diesen Einwand wahrscheinlich gar nicht bemerkt, so sehr war er damit beschäftigt, die Schwankmotten zu beobachten. Er erschrak nicht wirklich über diese plötzliche Erkenntnis. Ehrlich gesagt hatte er sich ohnehin bereits gewundert, warum der Magier überhaupt bis in die Siedlung mitgekommen war.
„Nun ja“, begann Lillyopha ausweichend. „Er hat sich seiner Fähigkeit bedient, um sich unerwünschten Blicken zu entziehen. Während unseres Aufenthaltes solltet ihr seinen Namen lieber nicht laut aussprechen.“
„Aber warum nicht?“, hakte Yala nach, denn die Antwort gefiel ihr nicht.
„Wegen der Narbe“, erwiderte Tado anstelle Lillyophas, als die Magierin einen Moment nach Worten suchte. „Er hat eine Narbe an der linken Schulter, die ihm nur durch die Magie Telkors beigebracht worden sein kann.“
„Aber dann hätte es doch gereicht, einfach nur die Narbe zu verbergen“, warf Spiffi ein.
„Nicht unbedingt“, fuhr Tado fort. „Dass er durch Telkors Magie verletzt wurde, bedeutet, dass er einen Kampf mit einem anderen Magier geführt haben muss. Derartige Auseinandersetzungen würden aber kaum ohne triftigen Grund geschehen. Ich vermute daher, dass vor einiger Zeit jemand herausgefunden hat, dass er gegen die Oberen Vier arbeitet und ihn daher versuchte zu töten. Da Crius mit seiner Fähigkeit eigentlich keine Probleme haben sollte, einem Kampf zu entkommen, schätze ich, dass es ein relativ mächtiger Magier war, der ihm die Wunde zufügte. Da nun also in ganz Telkor bekannt wurde, dass er ein Feind der Oberen Vier ist, kann er es sich nicht leisten, an einem Ort wie diesem, an dem sich, wie er selbst sagte, auch viele den Lords ergebene Magier befinden, frei herumzulaufen.“
Juphien starrte ihn entgeistert an.
„Beeindruckend“, sagte Lillyopha und nickte. „Ein solch umfangreiches Wissen hätte ich nie von einem Menschen erwartet. Es ist alles wahr, was du gesagt hast. Crius wurde vom Lord des Wassers höchstpersönlich verletzt, kam aber glücklicherweise mit dem Leben davon. Seitdem suchen die Oberen Vier fieberhaft nach ihm, bis jetzt jedoch ohne Erfolg.“
Zwei Magier kamen schnellen Schrittes aus dem flachen Gebäude gestürmt; eine Schwankmotte begleitete sie. Sie schienen jedoch keinerlei Interesse an den Gefährten zu zeigen, sondern verschwanden mitsamt ihrem fliegenden Begleiter zwischen zwei dornigen Büschen, was sehr zu Lillyophas Erleichterung beitrug.
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