„Es erscheint mir ohnehin verdächtig, dass niemand von den Oberen Vier Verdacht schöpft, wenn ihr häufiger solche Versammlungen abhaltet und euch an irgendwelche abgeschiedenen Orte zurückzieht“, bemerkte Yala ein wenig provozierend.
„Nun ja“, entgegnete Lillyopha mit einem etwas verlegenen Lächeln, „Anders als bei den Menschen haben in Telkor nur mächtige Magier etwas zu tun. Alle, die für zu schwach befunden werden, um den Plan der Oberen Vier umzusetzen, sind von Einsätzen außerhalb der Insel befreit. Dies trifft leider auf alle Mitglieder unserer Gruppe zu.“
Tado hätte am liebsten beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und wäre schreiend davongerannt. Er befand sich inmitten einer Gruppe von Magiern, die zu schwach waren, um gegen Menschen zu kämpfen, im Gegenzug aber danach strebten, einen Lord niederzuringen. Schlimmer konnte seine Situation kaum werden. Auch die Aussicht, jemals wieder diese Insel zu verlassen, schrumpfte mehr und mehr zu einem blassen Hoffnungsschimmer in der Ferne, jeden Moment Gefahr laufend, vollends zu erlöschen.
Der Tunnel, durch den sie nun schon eine ganze Zeit eilig marschierten, besaß einen nahezu quadratischen Querschnitt, Wände und Boden waren glatt und aus natürlichem Gestein, die Luft kühl und keineswegs modrig.
„Wohin führt dieser Gang?“, fragte Spiffi nach mehreren Minuten des Schweigens.
„Zurück an die Oberfläche“, antwortete Juphien.
„In Kürze wird ein Treffen all jener Magier stattfinden, die sich gegen die Pläne Telkors zur Wehr setzen“, ergänzte Lillyopha. „Ort des Geschehens ist das Graustaubtal, ein zwielichtiges, verwegenes Gebiet, in das sich niemand ohne triftigen Grund hineinbegibt. Angesichts eures Auftauchens und des Suchtrupps des Lords haben wir unseren geplanten Aufbruch nun ein wenig vorverlegen müssen.“
„Und dieser Tunnel führt direkt ins Graustaubtal?“, versuchte Yala die Worte der Magierin wieder auf Spiffis Frage zurückzulenken.
„So einfach ist das leider nicht“, erwiderte Crius. „Ihr müsst wissen, dass Telkor in vier Gebiete aufgeteilt ist, und jedes davon ist einem der Oberen Vier unterstellt: Der Südosten der Insel gehört dem Lord des Wassers, der Südwesten wird vom Lord der Erde beherrscht. Im eher lebensfeindlichen Norden Telkors residieren der Lord des Feuers auf der westlichen Hälfte und der Lord des Windes auf der östlichen. Das Graustaubtal ist allerdings ein sehr großes Gebiet und erstreckt sich daher zu gleichen Anteilen in die beiden südlichen Territorien. Ungeachtet seiner Weitläufigkeit ist es jedoch, wie ihr euch bald schon selbst werdet überzeugen können, eher trostlos, und der erhebliche Aufwand, es zu verwalten, würde den kümmerlichen Nutzen, dem es seinen Besitzer entgegenbringt, nicht rechtfertigen. Daher verlaufen die Territorien der Lords außen um das Graustaubtal herum, sodass jeder, der sich dort hineinbegibt, zwangsläufig eine der Grenzen passiert. Nimmt man den Lord des Feuers einmal aus, ist den Oberen Vier stets daran gelegen, über die in ihrem Gebiet ein- und ausgehenden Magier Kenntnis zu erlangen. Einen Tunnel, der sich unter ihren Füßen befindet, würden die Wachen innerhalb kürzester Zeit aufgespürt haben.“
„Aber sie werden uns erst recht bemerken, wenn wir die Grenze auf normalem Wege überschreiten“, warf Lukdan ein.
„Das schon“, bestätigte Lillyopha. „Doch die Oberen Vier halten niemanden auf, der ihre Grenze überquert. Es geht ihnen nur darum, zu wissen, welche Magier sich zurzeit in ihrem Territorium aufhalten. Ein unterirdischer Gang wäre allerdings nicht nur äußerst verdächtig, er würde sie auch direkt zu unseren geheimen Versammlungsorten führen.“
In diesem Moment endete der Tunnel vor einer breiten Treppe, die sie wieder hinaus ans Tageslicht brachte. Soweit es Tado beurteilen konnte, hatte sie ihr Weg direkt in einen Wald geführt. Hohe Bäume mit breiten, glatten Stämmen und teilweise mannshoch aus dem Boden ragenden Wurzeln warfen finstere Schatten auf den laubbedeckten Grund. Spärlich begrünte Sträucher begrenzten die Sicht auf wenige Dutzend Schritte. Die weit ausladenden, vom beginnenden Herbst rötlich angefärbten Baumkronen, die sich stets auf das obere Drittel der Stämme beschränkten, ließen nur selten einen Blick auf den feuerroten Himmel zu, dessen schwaches Licht kleine, goldene Flecken auf den Waldboden warf; und jedes Mal, wenn ein schwacher Wind durch das Geäst wehte, tanzten die Lichtstrahlen um die Schatten des Blattwerks herum und ließen das trockene Laub funkeln.
Der Eingang zum Tunnel, der die sieben hierhergebracht hatte, lag, eingerahmt von zwei massiven Wurzeln, direkt unter einem der großen Bäume, von außen kaum sichtbar, denn die Zweige eines niedrigen Gebüschs störten neugierige Blicke. Wenn Tado ehrlich war, konnte er eigentlich überhaupt keinen Tunnel oder dergleichen ausmachen, obwohl er genau wusste, dass er sich dort befand. Crius‘ Fähigkeit beeindruckte ihn aufs Neue.
„Es ist bald Mittag“, stellte Lillyopha fest. „Sobald der Morgen vollends vorüber ist, wird es in diesem Wald ziemlich ungemütlich. Wir sollten hier nicht allzu lange verweilen.“
Es war Tado ein Rätsel, woher die Magierin die Tageszeit kannte. Unter dem orangeroten Himmel fühlte es sich stets so an, als sei die Sonne gerade im Begriff, unterzugehen. Yala musste Ähnliches denken, denn sie sprach Lillyopha nur kurze Zeit später darauf an.
„Als Magier kennt man die Uhrzeit instinktiv“, antwortete diese nach kurzem Überlegen. „Für einen Menschen muss es tatsächlich schwierig sein, ohne Sonne oder Mond das Zeitgefühl zu bewahren.“
„Aber wie kommt es, dass der Himmel die ganze Zeit über seine Farbe nicht ändert?“, fragte Yala weiter.
„Der Lord des Windes hat hierbei seine Finger im Spiel“, erwiderte Crius an Lillyophas Stelle. „Zu jeder Jahreszeit ändert der Himmel sein Aussehen, wobei jede Farbe einen der Oberen Vier repräsentieren soll: Im Herbst lodert er in grellem Orange, wie die Flammen eines ewigen Infernos; im Winter wird er in ein tristes Grau getaucht, verwaschen und schwer in Worte zu fassen, so wie der kühle Wind, der um diese Jahreszeit über die Insel zu ziehen pflegt. Im Frühling dann erstrahlt der Himmel in einem tiefen Blau, ähnlich dem weiten Ozean, der Telkor zu Füßen liegt. Am wundersamsten ist seine Farbe allerdings im Sommer. So wie die finstere Erde, auf der das Reich der Magier erbaut worden ist, färbt sich auch der Himmel pechschwarz, und doch ist es hier unten heller als zu jeder anderen Zeit, denn scheinbar aus dem Nichts fällt ein goldenes Licht auf das Land herab und lässt es verhalten schimmern.“
Obwohl seine Worte das Werk der Oberen Vier recht ansehnlich kleideten, merkte man Crius an, dass er von dem Aufwand, den die Herrscher Telkors sich gemacht hatten, nicht allzu viel hielt. Tado hingegen ärgerte sich nun ein bisschen, dass er nicht schon einige Tage zuvor auf der Insel gelandet war, denn er hätte den Sommerhimmel gerne einmal bewundert.
In der Zwischenzeit hatten die sieben einen relativ breiten Weg erreicht, der sie in sanften Schlängellinien durch den Wald führte. Die weit ausladenden Kronen der nebenstehenden Bäume warfen allerdings weiterhin dunkle Schatten auf den ausgetretenen Boden, sodass es auch hier nicht unbedingt heller war als im zurückliegenden Dickicht.
„Weicht nicht vom Weg ab“, mahnte Lillyopha die Gefährten nach einer Weile. „In diesem Wald leben Kargahle; äußerst abscheuliche Kreaturen, die einst geschaffen wurden, um sie in die Armee der Oberen Vier einzugliedern. Die Wesen ließen sich jedoch nicht bändigen und ein paar von ihnen entkamen eines Tages den Fängen der Magier und flüchteten sich in diesen Wald. Es war zunächst unmöglich, ihr Versteck ausfindig zu machen, und so vermehrten sie sich, bis schließlich das Vorhaben ihrer Ausrottung aussichtslos wurde und man sie in diesem Gebiet gewähren ließ. Sie verschlafen meist die ersten Stunden des Tages, ehe sie erwachen und auf Beutefang gehen. Doch solange man die Wege nicht verlässt, ist man vor ihnen relativ sicher.“
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