Eddas Vetter, ein Psychiater, den sie viele Jahre später einmal darauf ansprach, erklärte ihr, dass dieser Vater die Verdrängungskunst perfekt beherrsche. Das müsse so sein, sonst könne er die Kriegslasten nicht tragen. Eine schwere Krankheit, die besonders bei den Überlebenden des Krieges seiner Generation sehr verbreitet ist. Auch eine jahrelange Therapie würde, nach so langer Zeit, in den wenigsten Fällen Erfolg haben. Der Kranke, so müsse man ihn wohl nennen, ist oft so schwer traumatisiert, dass er irgendwann, früher oder später, unter totalem Realitätsverlust leide, nicht zuletzt um sich zu schützen. Er hocke in seiner ausgepolsterten Höhle als der einzig Gute und sähe nur noch Feinde und schlechte Menschen, da er selber zu intensiv und lange, schlecht und Feind gewesen sei. Arroganz käme auch noch dazu, weil diese Überlebenden sich unbewusst für unsterblich hielten.
„Es wird leider noch eine Weile dauern bis sie aussterben. Ein wahres Übel der Menschheit, diese Alten, diese Kriegsveteranen.“
Er sah Eddas entsetztes Gesicht und fügte hinzu, diesen Satz nicht als Arzt ausgesprochen zu haben, sondern als direkt Betroffener eines dieser Verrückten in seinem nahen Familienkreis.
Edda erfand ihre Sprache für das Wortlose schon sehr früh, viele Jahre bevor sie an den Waldrand gezogen waren. Sie war noch kein Schulkind gewesen, als ihr der Keuchhusten den Kleinkindspeck raubte. Sie war besorgniserregend dünn geworden und hustete oft noch so stark, dass sie sich erbrach, obwohl die akute Krankheit schon seit Monaten überstanden war. Schon beim ersten Hustenreiz kotzte sie los. Das nervte Vater ungeheuerlich, doch je mehr er befahl mit dem blödsinnigen Keuchen aufzuhören, umso öfter keuchte und kotzte Klein Edda ihm vor die Füße. Dem dringenden Rat des Arztes folgend, schickte man sie nach Bad Kreuznach in ein Kinder Erholungsheim. Edda war knappe Fünf und hatte das Gewicht einer gesunden Dreijährigen. Der Zug war beladen mit ängstlichen Kindern, welche alle ihr Namensschild um den Hals gebunden auf der Brust trugen. Zwei Schwestern vom Roten Kreuz begleiteten diese Fracht. Edda war noch nie von ihrer Familie getrennt gewesen. Sie war eine der Jüngsten im Heim, in dem großen Schlafsaal war sie aber das einzige Kind, dem ein Gitterbett zugewiesen wurde. Sie konnte natürlich hinausklettern, die Seitengitter waren hier nur zum Schutz gegen das Herausfallen gedacht.
Da sie den Esstisch nicht verlassen durfte, bevor ihr Teller Wirsing Eintopf leer gegessen war, wurde sie gleich am ersten Tag der Buhmann. Sie saß stundenlang vor diesem Teller, sprach mit den Fliegen, die vergnüglich an den glibberig weißen Speckwürfelchen saugten, die sie spielerisch um den Tellerrand drapiert hatte. Natürlich gab es zur Strafe keinen Nachtisch für sie, die Kalorienbomben für die Kinderschar. Eddas Gewicht fiel weiter.
Kinder hatten in diesem Haus an Gewicht zuzulegen, es war die oberste Pflicht der Schwestern, darauf zu achten. Die Gewichtszunahme wurde jede Woche dokumentiert. Keine Gewichtsabnahme! Aus diesen Zahlen ergab sich die Notwendigkeit dieses Establishments, sie rechtfertigten die Subventionen.
Alle Kinder aßen freiwillig, nur Edda nicht. Man versuchte sie zu nudeln. Eigentlich aß sie gerne, aber niemals viel, außerdem gab es hier nur Speisen, die sie nicht mochte. Man hielt sie zu zweit fest, und eine dritte Person schaufelte ihr die kalten Speckbröckchen ihres Tellerrandes in den gewaltsam geöffneten Mund. Speck macht fett, das wusste jeder.
Edda schluckte, hustete und kotzte. Nach einigen weiteren Versuchen, die Nahrung gewaltsam einzuverleiben, entschied man, dass sie ungehorsam sei und sich für den beliebten Nudelakt nicht eigne. Ihre Tasse Milch wurde von nun an mit flüssiger Sahne angereichert. Man gab ihr nur noch dick belegte Käsebrote mit viel Butter zu essen und doppelte Portionen Schokoladenpudding. Sie aß, allerdings einsam am Katzentisch, an den die bösen, ungehorsamen Kinder verbannt wurden.
Im Schlafsaal war sie ein willkommenes Spielobjekt geworden. Die älteren Mädchen standen abwechselnd auf, zogen Edda die Bettdecke vom Hintern und versteckten sie, mal auf der Fensterbank, mal unter irgendeinem Bett oder in der hintersten Ecke des großen Raumes. Dann rannten sie zurück in ihre Betten und kicherten ausgelassen. Edda musste aufstehen, über das Gestänge klettern und bäuchlings, langsam daran herabgleiten. Im Dunkeln suchte sie dann ihre Decke, das passierte jede Nacht. Die Kinder wurden dieses Spiel nicht leid, und es gab jedes Mal ein heiteres Toben der nackten Kinderfüße auf poliertem Zementboden.
Bis eines Nachts Schwester Marlies hereinstürmte. Das Neonlicht blitzte auf, und Edda stand als einziges Kind, mit ihrer Decke im Arm, blinzelnd mitten im Saal. Die anderen Kinder stellten sich schlafend. Schwester Marlies war nicht ratlos. Sie holte Mullbandagen und fesselte Eddas Handgelenke an die Gitterstäbe, deckte sie bis zur Nasenspitze zu, löschte das Licht und verließ den Schlafsaal. Bis zum nächsten Morgen lag Edda in ihrem kalten Bett ohne Decke und tränengetränkten Entenfedern im Kopfkissen. Die Zudecke war von den Kindern in die hinterste Ecke des Bettchens geschoben worden. Es war Winter. In diesen Jahren waren auch Kinderheime mit uralten, schlecht entlüfteten Heizkörpern ausgestattet. Edda erkrankte an einer Lungenentzündung. Sie war fünf Wochen in diesem Heim.
Als sie am Bahnhof von ihrer Mutter aus den Händen der Aufsichtsperson befreit wurde, war sie blass und hatte tiefe Schatten unter den weit aufgerissenen Kinderaugen. Sie sprach kein Wort. Hastig griff sie die Hand ihrer besorgten Mutter und krallte sich dort fest, ohne Tränen. Sie beantwortete keine, der mit lieblicher Stimme gestellten Fragen ihrer Mutter. Als sie nach sechs Monaten immer noch nicht sprach, fürchtete man ernstlich um ihren Verstand. Vermutlich hatte das hohe Fieber diesen Schaden angerichtet. Die Einschulung stand bevor, das wurde zu einem Problem. Eine ihrer Schwestern war bereits in der ersten Schulklasse. Edda hatte mit Eifer bei deren Hausaufgaben dabei gesessen und wie im Spiel mitgelernt. Sie konnte inzwischen schreiben und lesen wie ihre Schwester, doch niemand hatte ihre geschriebenen Buchstaben beachtet, niemand hörte sie lesen, sie machte das lautlos, nur mit den Lippenbewegungen. Der Behördenarzt fand das sofort heraus und alle waren erstaunt. Auch ein außergewöhnlich empfindliches Gehör wurde festgestellt. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, das war damals etwas sehr Außergewöhnliches, aber Eddas Mutter bestand darauf. „Dekadent“, knurrte Vater widerwillig.
Beide Ärzte begegneten sich in Anwesenheit von Edda. „Das Problem ist, Herr Kollege“, sagte der Schularzt und stellte Edda vor, „die Kleine kann nicht sprechen.“
Edda hüpfte von ihrem Stuhl, zog den neuen, netten Doktor, der keinen weißen Kittel trug, zur Seite und flüsterte dem erstaunten Mann ins Ohr: „Sprechen kann sie, will sie aber nicht.“
Dieser bestätigte, dass Edda zwar etwas übersensibel sei, unterernährt und mit zurückgebliebener Egobildung, aber besonders aufnahmewillig und mit erfreulicher Intelligenz gesegnet. Sie könne auf jeden Fall Ostern eingeschult werden.
„Na, was habe ich gesagt“, dröhnte Vater, „meine Kinder brauchen keinen Seelenflicker.“
Vater, war er ein Opfer seines Vaters? Der Lehrer, der Gesellschaft, des Militärs, des Krieges? Wie lange konnte ein Jeder auf der Vergangenheit herumreiten? Besonders auf dem Sattel der Kindheit, der verschlissenen Schuld der Anderen. Und wer kann sich rühmen kein Opfer zu sein! Meistens findet sich schon bei oberflächlichem Graben ein Quäler. Aus der Kindheit muss er sein! Edda hörte den barschen, ungeduldigen Ton ihres Vaters immer noch. „Wenn du noch einmal hustest, gibt es den Arsch voll und ab ins Bett.“
Sie hustete gerne, es ging in ein Bellen über, und der besorgte Arm ihrer Mutter legte sich um sie. Aber sie kotzte nicht mehr. Eine Zank- und Beißaktion mit ihrer Schwester, endete kniend, angebunden am Fuße des Kleiderschranks im Elternschlafzimmer. Beide Kinder sollten unaufhörlich Wau-Wau rufen. Wenn diese Belllaute verstummten und in ein Schluchzen übergegangen waren, erhob sich Vater grinsend aus seinem Sessel im Wohnzimmer. Mit einem Holzkleiderbügel gab es dann einen Klaps auf den Popo. „Wenn sie sich wie die Köter beißen können, sollen sie auch bellen wie die Köter!“ Mutter versuchte sich empört einzumischen. „Das wird so gemacht und damit basta“, schnauzte er. Er war zufrieden über seinen gelungenen Erziehungseinfall und gab ihn später gerne vor seinen Gästen zum Besten. Dann imitierte er eindrucksvoll die schluchzenden Wau-Laute seiner kleinen Töchter, und er lachte herzhaft dazu.
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