1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 Vor dem Essen wurde gebetet, Mutter bestand darauf, obwohl sie kein bisschen gläubig war, im Gegenteil, es gibt keinen Gott behauptete sie. Edda war da ganz anderer Meinung. Da Mutter als kleines Kind schon Vollwaise geworden war, bestand sie auf dieser Ansicht. Beinahe das Einzige, woran sie sich jedoch im glücklichen Zusammenhang mit ihrer Mutter erinnern konnte, waren kurze Gebete bei Tisch und vor dem Schlafengehen. Es kam ihr nicht auf das Gebet an, sie wollte nur dieses Gefühl der Geborgenheit an ihre Töchter weitergeben, auch wenn die Welt drumherum ein häuslicher Kriegsschauplatz war.
„Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, sagte sie feierlich. Es war immer das gleiche Gebet. Vater faltete die Hände nicht, er las seine Zeitung und setzte sich erst an den Tisch, wenn das Gebet und die alberne Händehalterei mit einem “Amen, und Guten Appetit“ beendet war. Eines Tages faltete Vater doch seine Hände und grölte sein Gebet.
„Lieber Gott im Himmel, schenk mir ein Kind mit Pimmel, ich hab schon vier mit Fotzen, es ist zum Kotzen.“ Niemand am Tisch fiel in seine Lachsalven ein, auch nicht “seine“ Hausgehilfin. Mutter zeigte sich brüskiert. „Ich will solche Schweinereien nicht hören, nicht bei Tisch und schon gar nicht vor den Kindern.“
Sie wusste nicht, was Edda alles schon von ihm gehört hatte, der Pimmel war dagegen ein Waisenknabe. Das war noch in der Zeit, als Edda sich bereit erklärt hatte, nach Vaters Wunsch, Kapitän zu werden und ihre Stimme auf dunkel trainierte.
Papa war ein Ehrenmann, so hatte sie erfahren. Ein Ehrenmann ist jemand, der nie lügt und immer Recht hat. Und wenn er brüllte wie ein Tier, das sie nicht kannte, hatte er wohl auch Recht. Selbst wenn die roten Striemen auf ihrem Hintern anschwollen. Sie wusste ja längst, es sollte ein ordentlicher Mensch aus ihr werden. Ein guter Mensch! Doch immer wieder wunderte sie sich, warum dieses Werden so schmerzhaft sein musste. Er küsste ihren angeschwollenen, roten Po und schmierte anschließend eine dicke, klebrige Schicht Penaten Wundcreme darauf. Edda schlief auf dem Bauch.
Vor vielen Jahren, als sie noch das Herunterziehen einer Türklinke nur auf Zehenspitzen bewältigen konnte, hing sie oft glücklich in einer Wolldecke, wie ein junges Känguru. Zwei Enden der Wolldecke waren an die Lenkstange eines Tretrollers geknotet, die beiden anderen Zipfel hinten am Gepäckträger, der dort in niedriger Sitzhöhe befestigt war. Das ergab eine leichte Schräge in ihrem Wollbeutel. Ihr federleichter Körper baumelte dann zwischen den Beinen ihrer großen Schwester. Jede Unebenheit ließ ihren kleinen Hintern etwas unsanft auf das Trittbrett des Rollers sacken, sie bemerkte es kaum. Ein roter Roller, mit Luftreifen sogar. Sie lag mit angewinkelten Beinen und geöffneten Augen in diesem Nest und fühlte sich geborgen. Die Decke umschloss ihren kleinen Körper, eine etwa zwei Handbreit weite Öffnung über ihrem Gesicht, erlaubte ihr den Blick in die Welt. Ihre Welt der Gegenwart. Dieses Wollschlitzfeld erlaubte ihr alles zu sehen, alles, was ihr lieb und wichtig war. Das Gesicht ihrer großen Schwester, ihre vom Antreten des Rollers wippenden blonden Zöpfe, der blaue Sommerhimmel und mit ihm verflochten, vorbei sausende Baumkronen.
Edda hantierte viele Jahre mit diesem Erleben. Beim Gedanken daran, fühlte sie erneut diese Sondermischung aus Freude, Abenteuer, Vertrauen und Geborgenheit, auf einer Fahrt ins Ungewisse. Es konnte sogar ihre Angst dämmen, konnte gegen Einsamkeit antreten oder erdrückende Situationen mildern. Das Bild der Erinnerung mit dieser Schwester, die sie durch die Welt lenkte und auf dem Trittbrett stehend mit ihr einen Berg hinunterraste, wirkte heilsam auf Edda. Diese Lieblingsschwester symbolisierte Sicherheit für sie, von frühester Kindheit an. Seit sie denken konnte. Natürlich war dieses Wesen das schönste Mädchen auf der Welt, einfühlsam, klug und unendlich geduldig. Ihre hilfreichen Erklärungen zu „Lindners Wissen der Biologie“, oder spannende Erzählungen zu „Grzimeks Serengeti“ zogen sich über Jahre hin, und etwas später widmete sie sich Eddas Fragen der Pubertät. Selbst Annäherungen zur Negermusik, zu der auch Jaques Lucies, Play Bach gehörte, standen mit auf der langen Aufklärungsliste dieser Wunderblume. Ihre Schwester wusste auf alles eine Antwort, die immer sorgsam gewählt und aufrichtig war. Antworten, die ein kindlich verletzbares Gedankengerüst nicht erschütterten, sondern es erweiterte, trotz oft unvermeidlich beängstigender Wahrheiten. Etwas, was ihre Mutter nicht verstand, diese neigte eher zur Kassandra-Version.
„Was ist relativ, ist das gut oder schlecht?“, fragte Edda ihre große Schwester.
„Also, stell dir vor, ein Möwe-Mann von der Nordseeküste Schleswig-Holsteins ist seine Sippe leid, also macht er sich auf den Weg an die Ostsee, um sich nach einer Frau umzusehen. Eine, die er nicht kennt, die er noch nie gesehen hat. Dazu hat er Lust. Er fliegt etwa nur eine Stunde, und schon ist er an einem anderen Meer. Eine neue Welt für ihn, das große Abenteuer. Aber eine Stunde ist relativ. Da er etwa nur fünf Jahre lebt, ist das für ihn ein recht langer Flug. Ein Mensch lebt durchschnittlich etwa achtzig Jahre, falls kein Krieg dazwischen kommt. Das ist wievielmal mehr, wie oft passt die Fünf in die Achtzig?“
Auf diese Weise rückten ihr Grundregeln der Mathematik näher. Edda zählte schnell an den Fingern nach und sagte, „sechzehnmal“, sie wollte unbedingt hören wie die Geschichte weiterging. „Der Möwe-Mann ist also nur eine Stunde unterwegs, aber für ihn sind das, relativ zu seiner Lebensdauer gesehen, etwa sechzehn Stunden.“
„So als würde ich nach Amerika fliegen, ohne Flugzeug? Das ist ganz schön weit für eine neue Frau, wahrscheinlich bleibt er bei seinen Leuten“, meinte Edda skeptisch.
Diese Schwester weckte ihren Wissensdurst in viele Richtungen, doch durften keine Maßnahmen dabei ergriffen werden, die nach pädagogischen Tricks rochen, dann blockierte Edda jede Aufnahme. Sie achtete ihre Schwester sehr, aber bedingungslos gehorchen wollte sie ihrem Vorbild nicht. Ein Gehorchen gab es für sie nur unter Zwang, unter Androhung von Strafe. Das hieß, unter körperlicher Züchtigung. So gehorchte sie, zumindest augenscheinlich, nur dem Vater.
Edda war eine der treuesten Ungenügend Kandidaten bei Frau Dr. Kohlmann, ihrer Englischlehrerin. Diese war fassungslos über Eddas Unwissen, und wie sie annahm, mangelndes Sprachtalent. Im Flur zeigte sie einem Kollegen Eddas Arbeit und raunte ihm zu, dass dieses Mädchen leider ein hoffnungsloser Fall sei. „Sie kann nicht einmal erfassen was ein Verb ist, und das im Wiederholungsjahr“, stöhnte die geforderte Pädagogin.
Die Gute, wie konnte sie auch wissen, dass Eddas schlechte Noten, ihre Lernblockaden, wenig mit mangelndem Auffassungsvermögen zu tun hatten, sondern eher mit drohender Strafe. Wer wusste das schon, zu jener Zeit, als Zucht und Ordnung die Eckpfeiler der Erziehung bildeten.
Es war am Tag nach Eddas Konfirmation gewesen. Ihre älteste Schwester, die für ein Jahr nach London gegangen war, erschien zu diesem Fest mit ihrem frisch Verlobten, um ihn der Familie vorzustellen. Ein junger Professor, schweigsam und blass, mit einer dunklen Hornbrille. Sie hatten gemeinsam mit Edda einen Spaziergang unternommen, bei dem ihre Schwester versuchte eine Biene aus den Fängen einer Spinne zu befreien. Der Verlobte hinderte sie daran. Mit Grabesstimme ließ er verlauten, dass auch sie, das Elend auf dieser Welt zu sein und ungerecht behandelt zu werden, nicht aufhalten könne. „Lass sie leiden“, sagte er drohend und beobachte mit verklärtem Blick das sich windende Insekt, das unter fürchterlichem Gebrumm im klebrigen Faden eingerollt, noch leicht zappelnd ausgesaugt wurde. Er steckte die Nase gierig bis an das Spinnennetz, nahm seine Brille ab, um besser ins Detail blicken zu können. Die Schwester wandte sich wie versteinert ab. Wenige Stunden nach diesem Zwischenfall hörte Edda ihren Vater aus dem Wohntrakt toben. Außer sich vor Zorn schrie er auf seine Älteste ein. „Du kannst von mir aus jeden Mann auf dieser Welt heiraten, und wenn es ein Neger sein sollte, ein Chinese von mir aus, aber kein Jude. Niemals! Nur über meine Leiche!“
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