1 ...7 8 9 11 12 13 ...29 Die Schwester und der Nichtchinese flogen noch am selben Tag zurück nach London. Sie trennten sich sehr bald danach, aber nicht wegen Vaters Leiche. Der Verlobte hatte ihr auf der Rückreise mitgeteilt, dass er sie liebe, o b w o h l sie eine Deutsche sei, er aber niemals seine Kinder glücklich umarmen könne, wenn sie deutsches Offiziersblut in den Adern hätten. Den Vater, mit seinem Hass in der Ferne, hätte ihre Schwester ertragen können, aber keinen Ehemann mit Hass auf ihre Kinder.
Eddas Erröten erreichte seinen Höhepunkt, als ein bildschöner Seemann, als Maschinist, von ihrem Vater in der Baufirma eingestellt wurde. Ferien, welch ein Glück, sie konnte täglich bei ihm sein, erlernte das Messerwerfen und Maschinenbetrachten, Motor raus, Motor rein, alle Schläuche, Kabel, Schrauben und das Drumherum. Er war geduldig, erklärte alles. Sie las sämtliche Hornblower-Bände, erlernte das Morsealphabet und die Flaggenzeichen der internationalen Seefahrt und ließ es ihn wissen. Sie glaubte unauffällig an seiner Seite kleben zu können, wenn sie sich wie ein Junge anzöge und benähme, darin hatte sie Erfahrung. Sie wollte, dass er sie tätowiere, das selbe Zeichen wie er. Auch auf der Brust. Dazu kam es nicht. Der Seemann hatte natürlich einen Vollbart, und er hatte blaue Augen, wie Vater. Aber er brüllte nicht, nie, und er hatte eine warme Stimme mit dem Akzent ihres geliebten Schleswig-Holstein. Ihre Hingabe zu schwarzen, mit Altöl getränkten Händen, hielt die ganzen Sommerferien an. Der bärtige Maschinist hatte alle Hände voll zu tun die Pubertierende auf gebührendem Abstand zu halten.
Edda wuchs heran, die Weltentfremdung lauerte. Das Leben sei ein Problem, bei dem man Übung bekommen sollte, hatte sie von ihrer Großmutter erfahren, der Mensch gewöhne sich schließlich an alles, auch an sein Leben.
Sie gewöhnte sich an Vieles. An ihre Familie zum Beispiel, obwohl sie manchmal stutzte und erstaunt war, ein Teil davon zu sein. Sie hatte den Umstand, Vaters körperlichen Züchtigungen ausgesetzt zu sein wann immer er es für nötig befand, endlich als Unumgänglichkeit erkannt. Zu ihrer Furcht vor ihm, gesellte sich tief eingefleischter Respekt, als sei sie damit geboren, als sei es eine Charaktereigenschaft. Nicht zu hinterfragende Macht stülpte sich über zarteste Wahrnehmungen. Ein teuflisches Gemisch, ein teuflischer Kampf. Die väterlichen Wutausbrüche, vom Jähzorn angeheizt, schienen von tyrannischem Überblick geleitet, er genoss sich selbst dabei, berauschte sich an seiner jämmerlichen Macht. Er hantierte mit festgeschraubten Vorstellungen von Falsch und Richtig. Vorhersehbare Vorstellungen. Es war demnach nicht schwierig, sich nach seinen Gesetzen zu richten, was auch dem Rest der Familie gelang. Edda vergaß sich und alle Gesetze wenn sie spielte, sie ging selten straffrei aus. Ihr Stolz war auf eine andere Ebene geflohen, doch nicht besiegt. Er winkte Edda verschwörerisch zu, bei jedem väterlichen, „keine Widerrede, und damit basta“, bei jedem Hieb. Auch ihr Trotz hatte überlebt, eine explosive Ladung in diesem höher gelegenen Versteck.
Als sie also endlich glaubte, schwingende Weidenstöckchen gehören unabwendbar in ihr Leben, hörte diese Unart des Vaters plötzlich auf. Das hatte seine Zeit benötigt, bis fast zu ihrem vierzehnten Lebensjahr. Der Auslöser war möglicherweise die spindeldürre Edda im anthrazitfarbenen, taillierten Konfirmationskleid. Sie trug zum ersten Mal in ihrem Leben Nylonstrümpfe und dazu schwarze, elegante Schuhe mit leichtem Absatz. Edda tänzelte mit klappernden Silberreifen an den Handgelenken vor ihrer staunenden Familie auf und ab. Man entschied, dass sie doch etwas Weibliches an sich habe. Ihre Mutter hatte sie mit etwas Lippenstift und einem feinen Lidstrich beinahe entstellt. Vaters Traum vom Sohnersatz schwand dahin. Immerhin hatte er doch beschlossen, dass sie Seemann werden sollte, Kapitän. Edda spielte zu dieser Zeit immer noch am liebsten auf den Bäumen und in schlammigen Bachbetten. Ein Sack Gips war ihr von jeher lieber gewesen als eine Puppe. Von diesem Tag des taillierten Kleides an, ging Vater sanfter mit ihr um, erklärte sie unausgesprochen zu seiner momentanen Lieblingstochter. Die übrigen Familienmitglieder kapitulierten vorläufig, es war sinnlos um seine Gunst zu buhlen und gegen Edda anzueifern. Sie war nach Vaters Wunsch geraten, da konnte niemand mithalten. Als Edda wenig später, wegen ungenügender Leistungen das Gymnasium verlassen musste, meldete Vater sie kurzerhand, ohne ein Wort der Drohung, ohne die Weidenrute, an einer kostspieligen Privatschule an. Der Schulbeginn war im Herbst. Bis dorthin lagen einige freie Monate vor ihr, sie war mit vierzehn nicht mehr schulpflichtig. Befreit von der Schule, ein paradiesischer Zustand. Vater nahm sie mit zu seinen zahlreichen Baustellen, damit sie etwas Praxis vom Bauwesen bekäme. Jetzt sollte sie nicht mehr zur See fahren, sondern Bauingenieurin werden. Edda gewöhnte sich an diese Fahrten, sie machten ihr großen Spaß.
Sie gewöhnte sich auch an die ständige Heulerei ihrer Mutter und wusste sie inzwischen mit Abstand zu trösten. Es erschütterte Edda nicht mehr, wenn ihre Mutter wegen seiner Sekretärin oder irgendeines anderen „dreisten Weibsbildes“ weinte. Sie war großartig im Sich-Gewöhnen geworden.
Doch eine Unart ihres Vaters wollte sich einfach nicht der Gewöhnung beugen. Das war seine Brüllerei. Vater war laut, egal wo er auftrat, man hörte ihn von Weiten. Seine Stimme war nicht direkt unangenehm aber zum Herrschen verkommen. Sie übertönte alles. Edda rannte oft aus dem Haus, nur um diesem Geschrei zu entgehen. Auch am Telefon schrie er, als wäre dieser Apparat unnötig und sein Stimmorgan müsse die Kilometer überbrücken. Besonders Eddas Mutter brüllte er an, wenn sie den Jammerton über ihn schwappen ließ, aber er brüllte auch, wenn er nicht wütend war. Seine Stimmlage war offensichtlich in der Kriegszeit steckengeblieben, als wetterte sie immer noch gegen Geschützgetümmel an, oder gegen müde Rekruten auf dem Kasernenhof.
Doch dann entdeckte Edda, dass ihr Vater auch eine normale Stimme besaß, kräftig zwar, aber ohne zu schreien. Im Auto, wenn er mit ihr auf stundenlangen Fahrten zu den Baustellen unterwegs war, sprach er in angenehmeren Tonfall, sogar, wenn er sich dann begeistert äußerte. Er erzählte vom Krieg, von dem wunderbaren Kameradenleben damals, von seinen Abenteuern auf dem Schlachtfeld und von den guten und den bösen Toten. Er erzählte von seinen zahlreichen Heldentaten. Edda kannte diese Geschichten bald auswendig. Auch in einige vergangene und aktuelle Liebesaffären weihte er sie ein, plauderte darüber bis ins kleinste Detail. Gerüche und Bewegungen seiner Damen waren ihr nun vertraut. Nun war sie informiert über alles Nötige und Unnötige über den Liebesakt zwischen Mann und Frau, vor allem, wie seine Idealfrau gestrickt sein sollte.
Bevor Edda fünfzehn war und noch niemals den Kuss eines Liebsten geschmeckt hatte, schlug sie sich gedanklich mit den recht anschaulich dargestellten Liebespraktiken ihres Erzeugers herum. Sie war von einem Tag auf den anderen von ihrem Baum geplumpst, hinunter in die Erwachsenenwelt. Von einer ungezogenen Göre, in Vaters Publikumsersatz umfunktioniert und zu seinem Fürsprecher erkoren. Auch daran gewöhnte Edda sich, und sie war sehr stolz darauf seine Vertraute zu sein.
Mutter strampelte machtlos gegen eine drohende Entfremdung dieser Tochter an, denn Edda wurde von ihm mit seiner jeweiligen Geliebten bekannt gemacht und hatte diese zu hofieren. Sie begann ihren Vater über alle Maße zu bewundern. Angst vor unantastbarer Autorität und Strafe rutschte in die Tiefen ihrer Seelenschluchten. Auch als ihre Schulzeit schon längst wieder begonnen hatte, war sie oft mit ihm unterwegs, tagelang. Die Schule war schließlich privat, solange man den monatlichen Beitrag zahlte, konnten unbegrenzte Fehltage eingetragen werden. Dann wurden die gemeinsamen Fahrten plötzlich seltener und fielen nach und nach ganz aus. Sie begann ihn schmerzlich zu vermissen sobald er nicht zu Hause war, sobald sie nicht an seiner Seite weilen konnte. Sie war ungeheuer eifersüchtig auf seine Freundinnen. Als er einmal angekündigt hatte, sie morgens abzuholen und am Abend immer noch nichts von sich hatte hören lassen, war Edda außer sich. Sie weinte stundenlang. Vor Angst, es könnte ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein, vor Angst, er könnte vor ihr sterben!
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