1 ...8 9 10 12 13 14 ...29 Als Vater seine Frau verließ, seine Familie und Edda, glaubte sie ohne ihn nicht leben zu können. Sie war sechzehn Jahre alt und überstand seine Abwesenheit. Auch eine spätere, erste Liebschaft überlebte sie. Edda wachte damals kniend an der Badewanne einer Intensivstation auf, mit einem schwarzen Schlauch im Hals, durch das man Wasser in ihren Magen pumpte. Sie kotzte, bis der grüngelbe Gallensaft kam und dann wurde noch einmal kräftig nachgepumpt. Kotzen konnte sie. Sie musste einige Tage unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Ihr Freund, der sich geweigert hatte das weiterhin zu sein, schickte eine lilafarbene Orchidee ins Krankenhaus. Edda mochte kein Lila, und steife Orchideen mit einem Draht durch den Leib gerammt, stimmten sie noch trauriger. Sie liebte wilde, bunte Sommerblumen. Dazu gab es eine Karte, er hatte sich verlobt, natürlich nicht mit Edda.
Wenn niemals etwas umsonst geschähe, gedacht, gesagt, gelacht, geliebt, geholfen würde, wäre Eins und Eins trotzdem Nichts? Verschwindet alles in seinem Plus und Minus? Letztlich bleibt nichts bestehen, obwohl nichts verschwendet ist. Alles findet sich im Gegenpol wieder um sich irgendwann in Allem aufzulösen. Im Einzelnen, im Ganzen, zum Ganzen. Was aber passiert mit der Liebe? Kann sie jemals verloren gehen, ist sie beschränkt vorhanden. Oder ausschließlich hormonbedingt? Biochemie! Oder vertritt sie die freie Seele, unverfänglich, auch ohne Gehirn zugänglich, existent. Da sie kein Gegenüber hat, sich nicht in das Aufhebungsgesetz einreiht, ist sie ein Immer, ein Pur. Ein Pur im Nichts.
Edda versuchte sich im selbstständigen Denken, sie sammelte Lesefrüchte als neue Basis, las Bücher, die sie von Vaters Gedankengut ablenkten. Dazu gehörte das Aufspüren nach einem eventuellen Gegenüber der Liebe. Könnte es die Kreativität sein?
Sie verfiel auch dem Irrtum, ihrer Gefallsucht nachzugeben, indem sie sich scheinbar, ohne im Entferntesten dazu gedrängt worden zu sein, im Gespräch anpasste oder sogar entblößte. Sie bediente sich der Taktik keine Front zu bieten, offenbarte mit lieblicher Stimme ihre Fehler oder erfand welche an sich. Fehler, die gerade zum Thema passten. Sie gedachte somit, Vertrauen in ihrem Gesprächspartner zu erwecken, ohne dass er bemerkte dass sie durch seine Reaktion bestätigt, dessen Fehler für sich auflistete und sortierte. Mangelndes Selbstbewusstsein fiel ihr besonders auf. Auch geistige Beschränktheit erkannte sie neuerdings, Narzissmus ebenso oft. Diese Eigenschaften offenbarten sich ihr wie Geschosse aus dem Gegenüber. In diesem Begegnungszirkus erkannte sie wenig liebenswerte Komplexe, die meisten „Fehler“ beurteilte sie als bedauernswerte Mängel an einer Person. Ihre eigenen, hochgezüchteten Komplexe erkannte sie sehr schnell, natürlich nicht an sich selbst.
Die Entfernung wurde immer größer. Obwohl sie eigentlich die Nähe zu ihren Mitmenschen wünschte und diese auch dringend benötigte, schaffte sie mit ihrem Verhalten eine unüberwindbare Trennung. Sie wollte bewundert werden, Nähe zulassen, Freundschaft schließen. Doch der Fehleraufspürreflex torpedierte jeden Ansatz dazu. Sie würde allein bleiben! Warum konnte sie dieses Forschen nach Fehlern der Anderen nicht unterlassen, Minderwertigkeiten des Anderen nicht einfach ignorieren! Das hatte sie doch gelernt, damit war sie schließlich aufgewachsen.
Sie wollte einfach nur gemocht werden, selbst von Personen, die ihr gar nicht gefielen, dazu benötigte sie die Überheblichkeit und die Welt der Paradoxe. Vielleicht wäre sie eine perfekte Politikerin geworden, sie buhlte sogar um die Sympathie der Menschen, die ihr eigentlich gar nichts bedeuteten. Brauchte sie diese Wählerstimmen wirklich?
Das war Eddas Gerüst, an dem sich ihr Selbstbewusstsein mühsam versuchte hochzuschrauben. Dieses generelle Aufschlitzen der Fehlerrucksäcke der Anderen, machte sie kein bisschen glücklich, sie hatte Vaters Eigenschaft einfach nahtlos übernommen. Zu glauben, die Fehler der Anderen für sich zu benötigen, um sich unbewusst zu erhöhen, war ein Übel, das sie wie einen luftgefüllten Rettungsring, der sie über Wasser halten sollte, bewertete. In diesen Gewässern ihrer Orientierungslosigkeit gab es hungrige Haie, und der vermeintliche Rettungsring wies spürbar undichte Stellen auf.
Das Selbstmitleid ihrer postpubertären Jahre, die sich erstaunlich in die Länge gezogen hatten, war ebenfalls ein Hai, der sie ab und an in die Tiefe riss und in ihren Gedärmen nach der Seele wühlte. Doch ihr Instinkt, der fabelhaft funktionierte, bot diesem Unhold die Stirn. Dieser Instinkt ließ sich gelegentlich zwar etwas Zeit mit seinen Warnsignalen, aber wenn er sich meldete, dann hustete er deutlich in ihre fabrizierten Umwege. Dann horchte Edda auf, erinnerte sich an ihre blinden Waldläufe, barfuß, von Licht durchflutet im nächtlichen Dunkel.
„Wenn die Angst besiegt ist, wirst du getragen, dann wirst du der Meister deiner Umstände“. So raunte die Weisheit ihr zu. Sie war zu spüren, hinter jedem Baumstamm, und Edda vernahm ihr deutliches Wispern, das sich leider nicht fassen ließ. Es hüpfte beschwingt vor ihr her, schwang sich hoch in das Astwerk des Gleichmuts und entfernte sich wieder.
Ihr Ego war so jung wie ihr Leben und schon von erheblicher Schwere. Es entfaltete sich auf des Messers Schneide zu ihrem Weltverständnis, wollte groß und mächtig sein, flatterte, mit seinen schwerfälligen Flügeln wie aus Blei, um sie herum, riss an ihr, wie an dem Leib eines Engels und fegte mit seinen vor- und zurückweichenden enormen Wirbeln Eddas Umfeld platt. Wollte man ihr wirklich näher kommen, musste man sich geduckt an sie heranpirschen, unter den saugenden, pressenden Schüben ihrer Eitelkeit hindurch, und man musste der Welt gesammelte Geduld aufbringen, um ihr Herz zu erreichen.
An Geduckten gab es keinen Mangel, doch ein Geduldiger war ihr bisher noch nicht begegnet. So blieb Edda vorerst allein mit ihrer Illusion der lieblichen Vorstellung eines Mannes, der sich die Mühe machen würde, ihren Wert zu erkennen.
Etwas verdrängte die Grundidee ihres größten Wunsches, die Freiheit nicht nur zu kennen, sondern auch zu leben. Das Gefühl der Gewohnheit, von jemandem beherrscht zu sein, bevormundet zu werden, hockte hartnäckig in ihr. Ihre Freiheit war ständig in Gefahr von ihr selbst erdrosselt zu werden. Es gab Bewusstseinsübungen, die dem entgegensteuern konnten, die gegen unerwünschte Gewohnheiten ankämpften und dem Erwachen eine Stütze sein konnten. Darüber hatte sie gelesen. Dort hieß es auch, man solle das Alltagsverhalten nicht zur Routine verkümmern lassen, und Prioritäten sollten nicht in Prinzipien erstarren. Aber wo waren ihre Prioritäten, was sollte nicht erstarren und was war schon erstarrt?
Zu einer ihrer ungeliebten Gewohnheit gehörte auch, dass sie aus tiefstem Unterbewusstsein heraus, bei einem Startschuss, der eine scheinbar bedeutungslose Kleinigkeit sein konnte, völlig überreagierte. So in etwa, als würde ein erwachsener Mensch, der als Kind bei Regenwetter seine Mutter durch einen Schlangenbiss verloren hatte, bei jedem plötzlich einsetzenden Regen gleich wild um sich ballern oder bestenfalls nach dem Antiserum schreien. Edda hatte ihre unbewussten Reaktionen nicht im Griff, diese waren immer schneller als sie denken konnte. Verbal oder tätlich. Das war lästig. Es war nicht ungefährlich sie zu erschrecken, man biss einem schlafenden Hund ins Ohr.
Drei Charaktere stritten sich in ihr, streiften umeinander, als suchten sie gegenseitige Anlehnung, benahmen sich jedoch wie gleiche Pole. Ein Zustand der inneren Zerrissenheit, des Drucks der eingeschlossenen Abstoßung.
Sie hatte versucht den einen oder anderen Charakter zu verbannen, aber jeder einzelne erschien zu sehr ein Teil ihres Seins. Weniger unmöglich wäre es gewesen sich selbst einen Arm oder ein Bein abzubeißen. Es war ihr höchstens ein zeitlich begrenztes Verdrängen möglich. Das war bisher immer verwirrend ausgegangen und mit einem Verlustgefühl zu vergleichen.
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