Auch Vater rief ununterbrochen nach ihr. „Edda, kannst du mich hören, hörst du mich!“ Das klang sehr flehend.
Edda war nach der Fenstergeschichte, damit die Strafe auch ordentlich abgerundet wurde, auf den Speicher geschickt worden, um dort den ganzen Nachmittag vor der Riesenanzahl alter Dachfenster zu hocken und den alten Kitt mit einem Spachtel auszukratzen. Es waren wirklich viele Fenster! Edda hatte eine kurze Besichtigung gemacht und entschieden, erst einmal zu flüchten. Auf ihren Baum. Sie entwischte unbemerkt, holte sich aber vorher noch aus dem blechernen Brotkasten, in den die Mäuse keinen Einlass fanden, ein doppeltes Stück Apfelkuchen und eine Flasche Dauermilch aus dem Vorrat. Sie nahm eine Wolldecke mit und wollte schmollen.
Kurze Zeit später hörte sie den Lärm, lief hinunter an den Waldrand und sah die Bescherung schon von weitem. Dann hörte sie ihre Mutter nach Edda jammern. Edda stockte und huschte seitlich ins Farnkraut. Sie sollen alle mal ein bisschen um mich bangen, dachte sie. Am liebsten, nachdem sie gerade verhauen worden war, stellte sie sich ihre eigene Beerdigung vor. Sie wollte ihren Vater gerne um sie heulen sehen. Aber das hier, war auch nicht schlecht. Sie würden eine ganze Zeit brauchen, diesen Schuttberg zu durchwühlen.
Edda beobachtete einige Minuten schmunzelnd ihre trauernde Familie. Sie hörte noch wie ihr Vater die Polizisten, die inzwischen auch eingetroffen waren, ungeduldig anschnauzte. Sie sollten gefälligst einen Krankenwagen anordnen, es sei möglich, dass sich seine Tochter unter diesen Trümmern befinde. Dann wühlte er weiter nach ihr.
Edda schlich zurück auf ihren Baum und verspeiste genüsslich den Kuchenrest, holte ihren Schmöker heraus und freute sich, dass man um ihr Leben bangte. Erst als die Dämmerung einsetzte, stieg sie herab und wagte sich langsam in den Kreis des Scheinwerferlichtes, welches die verbissen schaufelnden Männer umgab. Vater entfernte schnell und vorsichtig, total nassgeschwitzt, einen Steinbrocken nach dem anderen. Schwere große Natursteine. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und sah sehr verzweifelt aus.
Edda bemerkte, er hatte blutige Hände, das beeindruckte sie besonders. Ihre übrigen Familienmitglieder saßen niedergeschlagen am flackernden Feuer, in der Nähe des Schutthaufens. Edda kam angeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, ihre Stimme betont lässig. „Was ist denn hier los?“
Vater blickte auf, sah sie an und wusste Bescheid. Er stürzte aus den Trümmern, umarmte Edda wie noch nie zuvor, bedeckte sie kurz und heftig mit Küssen auf Kopf und Wangen, um sie dann übers Knie zu legen und ihr mit blutiger Hand den Hintern zu versohlen. Ohne Stock.
Danach durfte Mutter an die Reihe, alle umarmten und herzten Edda. Man hatte bis dahin nur den toten Hund geborgen, der die Angewohnheit gehabt hatte, sobald er Vater brüllen hörte, sich eiligst unter Eddas Bett zu verkriechen. Mit diesem Bett war er in die Tiefe gestürzt. Alle Dachfenster waren zerstört. Gut, dachte Edda, dass ich mir diese blödsinnige Arbeit gespart habe. Noch nie hatte sie sich so wenig, oder besser gesagt gar nicht, gedemütigt gefühlt, wie nach dieser zweiten Tracht Prügel an diesem Tag.
Eine Woche später hatte Vater seine Baugenehmigung. Man konnte eine ganze Familie schließlich nicht in einem Trümmerfeld leben lassen. Keiner der Beamten wusste wie das Haus vorher ausgesehen hatte, wie viele Stockwerke oder Quadratmeter Wohnfläche genau, es vor dem Zusammenbruch gegeben hatte. Nichts dergleichen war aus den alten Papieren ersichtlich. Die Erkundigungen beim Katasteramt waren ergebnislos. Gerade in diesem Teil der Luftaufnahmen konnte man nichts Genaues sehen, da das alte Haus aus der Vogelperspektive zum Teil von den Buchenkronen verdeckt war. So wurde es dreifach größer wieder aufgebaut, genau nach Vaters Plan. Es hatte drei Bäder, eine Sauna mit Schwimmbecken und ein Kaminzimmer in teutonischen Maßen. In seinen Räumlichkeiten hätte ein Stab Pioniere, samt Familienangehörigen, Platz gefunden. Vielleicht war es genau das, was Vater bedacht hatte. Außerdem schien es zum größten Teil aus Fenstern zu bestehen. Acht Monate im Jahr wollte die Zimmertemperatur, trotz Heizung, nicht über 17 Grad hinaufklettern.
Aber so weit war es noch lange nicht. Zunächst wurde ein großer Bauwagen auf das Grundstück gestellt. Darin waren sechs Betten untergebracht, im Zweierpack übereinander montiert und im hinteren Teil des Bauwagens befestigt. Im vorderen Teil fand der Rest statt. Mutter wurde bald aus diesem Teil des Albtraumes erlöst, wie sie die Situation nannte.
Eines Tages entdeckte die ergebene Magd, dass der Herr des Hauses mit einem anderen Hemd am Leibe zurückkam, als es am Morgen beim Verlassen seines Clans der Fall gewesen war. Ein frisch gebügeltes Oberhemd. Auch seine Rasur war makellos, sichtlich keine Stunde zurückliegend. Es wurde so lange gebohrt, bis sich herausstellte, dass er schon seit Monaten seine Sekretärin bestieg und ihr luxuriöses Bad benutzte. Vater wurde des Verrats angeklagt. Mutter mietete ein kleines Apartment in der nächsten Kleinstadt, und Edda musste eine Weile das Geräusch der klappernden Absätze am Abend, bevor Mutter das Kinderbett erreichte, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, vermissen.
Nach einigen Monaten, Edda war schon ins nächste Schuljahr gerutscht, was einem kleinen Wunder glich, waren endlich einige Zimmer im neuen Haus bewohnbar. Die kleine angemietete Wohnung wurde nun als Büro genutzt, und Mutter residierte wieder Tag und Nacht bei ihrer Familie. Man hatte sich schnell an die enormen Räumlichkeiten gewöhnt.
Vater hatte am ersten Abend des Einzugs seiner Beethovenphase Ausdruck verliehen. Er ergötzte sich an der Überschaubarkeit einiger dieser Werke, ließ sich, je nachdem wie der Meister es den Noten befahl, in Hochstimmung oder sentimentale Rührung versetzen. Er verlangte klare Gefühle beim Musikgenuss, keine Experimente, und er ahmte dabei gerne die Bewegungen eines Dirigenten nach. Sein Musikgeschmack duldete keinen Anspruch an freies Empfinden oder Erstaunen in der Aufnahme unvorhergesehener Tonfolgen.
Eddas große Schwester hatte eine LP geschenkt bekommen. Vater kam nach Hause, stürzte an den Plattenspieler und entfernte den Tonarm manuell mit einem Ratsch von der Schallplatte. „Was macht diese Negermusik in meinem Haus“, bellte er.
Er war kein romantischer Mensch, doch bestimmte Musik und Heldenhaftigkeit rührten ihn. Er umarmte, um geliebt zu werden. Er half, um Bewunderung zu ernten und er verbrachte Heldentaten, um gerühmt zu werden. Er schien nichts zu vollbringen, einfach nur um der Sache willen.
Vater litt immer noch unter dem Nichtsieg des Vaterlandes. Zumindest grub sich das so, aus seinen Reden entnommen, in Eddas Bewusstsein. Es war überaus erstaunlich, dass er sich mit Sieg oder Untergang einer Nation identifizierte, da er gewiss nicht für das kollektive Empfinden geschaffen war. Sein Ego war unverwüstlich.
Er klaubte gerne Gegebenheiten aus der Vergangenheit heraus, drehte daran herum und konstruierte ein neues Gerüst für die Gegenwart. So schlüpfte er aus diesem Neubau als der Gute, der Schlaue oder Unschuldige hervor. Er fingerte in dunklen Löchern der Vergangenheit, knetete und roch, bis sie sich erhellten. Danach wiederholte er gedanklich oder verbal viele Male den neuen, für ihn günstigeren Umstand, bis er ihn am Ende selber glaubte. Das war der entscheidende Punkt, er glaubte wirklich an das, was er sich zurecht gedacht hatte.
Es muss ein mühsames Schleppen gewesen sein, aber er krallte sich an diesem Gewicht fest, als sei es das gewesene Selbst. Er konnte eine Person verurteilen oder bevorzugen, auf Grund seines Fantasiegeflechts. Die Familie versuchte mit dieser seiner Eigenart Schritt zu halten. Sie versuchte ihr Bestes.
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